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Teil VI

›Ich hatte ungeheure Pläne‹, murmelte er unentschlossen. ›Ja‹, sagte ich, ›aber wenn Sie versuchen, zu schreien, dann schlage ich Ihnen den Schädel ein mit ...‹ Weder ein Stein noch ein Stock war in Reichweite. ›Ich werde Sie erwürgen‹, verbesserte ich mich. – ›Ich stand an der Schwelle großer Dinge‹, redete er weiter, mit einer Sehnsucht in der Stimme, mit einem Verlangen, das mein Blut kälter strömen ließ. ›Nun kommt dieser dumme Schuft ...‹ – ›Ihr Erfolg in Europa ist für alle Fälle gesichert‹, tröstete ich ihn mit Nachdruck. Ich wollte es vermeiden, ihn zu erwürgen, versteht ihr – und tatsächlich hätte es ja wenig praktischen Zweck gehabt. Ich versuchte, den Zauber zu brechen, den schweren, stummen Zauber der Wildnis, die ihn an ihre erbarmungslose Brust ziehen zu wollen schien, indem sie vergessene, rohe Triebe und die Erinnerung an die Befriedigung ungeheuerlicher Lüste in ihm erweckte. Das allein, davon war ich überzeugt, hatte ihn an den Waldsaum hinausgetrieben, in den Busch, dem Feuerschein zu, dem Dröhnen der Trommeln und der langgezogenen Beschwörung; dies allein hatte seine gesetzlose Seele über die Grenzen erlaubter Wünsche hinausgelockt. Und seht ihr, das Grauen des Augenblicks lag nicht in der Aussicht, eins über den Kopf zu bekommen – obwohl ich mir auch dieser Gefahr genau bewußt war –, sondern darin, daß ich es mit einem Wesen zu tun hatte, dem im Namen von nichts Hohem oder Niedrigem beizukommen war. Ich mußte, gerade wie die Neger, ihn selbst anrufen, seine eigene unglaubliche und überspannte Verkommenheit. Über ihm war so wenig wie unter ihm, und ich wußte es. Er hatte sich von der Erde abgestoßen. Zum Teufel mit ihm! Er hatte die Erde selbst in Stücke geschlagen. Er war allein, und ich vor ihm wußte nicht, ob ich auf dem Boden stand oder in der Luft schwebte. Ich habe euch erzählt, was wir sagten, habe euch die Sätze wiederholt, die wir aussprachen – und doch – wozu das alles? Es waren gewöhnliche, alltägliche Worte – die vertrauten Worte, die man Tag für Tag wechselt. Doch was weiter? Hinter ihnen stand, meinem Empfinden nach wenigstens, die furchtbare Bedeutung von Worten, wie man sie in Träumen hört, von Sätzen, die man unter einem Alpdruck hinausschreit. Seele! Wenn je ein Mensch mit einer Seele gekämpft hat, dann bin ich es. Ich stritt auch nicht mit einem Irren. Ob ihr mir glaubt oder nicht – sein Verstand war völlig ungetrübt, allerdings mit furchtbarer Gewalt auf sich selbst eingestellt, aber ungetrübt; und hierin lag meine einzige Möglichkeit – außer der anderen natürlich, ihn auf dem Fleck totzuschlagen, die aber schon wegen des unvermeidlichen Lärms weniger vorteilhaft schien. Aber seine Seele war irr. Allein in der Wildnis, war sie in sich gegangen und – bei Gott, ich sage es euch – darüber verrückt geworden. Ich hatte – als Strafe für meine Sünden, nehme ich an – einen Blick hineinzutun. Keine Beredsamkeit hätte jeden Glauben an die Menschheit so gründlich erschüttern können, wie der schließliche Ausbruch seiner Offenherzigkeit. Er kämpfte auch mit sich selbst. Ich sah es, hörte es. Ich sah das Unbegreifliche einer Seele, die keine Hemmungen kannte, keinen Glauben und keine Furcht, und doch blindlings mit sich kämpfte. Ich bewahrte ziemliche Fassung; als ich ihn schließlich aber auf sein Lager gebettet hatte, trocknete ich mir die Stirn, und die Beine zitterten unter mir, als hätte ich viele Zentner auf meinem Rücken den Hügel hinaufgetragen. Und doch hatte ich ihn nur gestützt, sein knochiger Arm hatte um meinen Hals gelegen – und der ganze Mann wog nicht viel mehr als ein Kind.

Als wir am nächsten Tag gegen Mittag abfuhren, strömte die Menge, deren Anwesenheit hinter dem Vorhang der Bäume ich die ganze Zeit über genau gefühlt hatte, wieder aus den Wäldern heraus, erfüllte die Lichtung, bedeckte den Hügel mit einer Menge nackter, atmender, bebender Bronzeleiber. Ich dampfte ein kleines Stück stromauf, schwenkte dann stromabwärts, und zweitausend Augen verfolgten das Gebaren des plätschernden, stampfenden, bösen Flußteufels, der mit seinem furchtbaren Schweif das Wasser schlug und schwarzen Rauch in die Luft blies. Vor der ersten Reihe, hart am Ufer, tanzten drei Männer, von Kopf bis Fuß mit hellroter Erde bestrichen, ruhelos auf und ab. Als wir wieder an ihnen vorbeikamen, sahen sie nach uns her, stampften mit den Füßen, nickten mit den gehörnten Köpfen, schwenkten ihre scharlachenen Leiber; sie schüttelten dem Flußteufel ein Bündel schwarzer Federn entgegen, ein räudiges Fell mit hängendem Schwanz, irgend etwas, das wie ein gedörrter Kürbis aussah; von Zeit zu Zeit brüllten sie alle zusammen unverständliche Worte, die nicht mehr menschlich klangen; und das tiefe Murmeln der Menge, das dann und wann abbrach, klang wie die Responsorien einer satanischen Litanei. Wir hatten Kurtz in das Ruderhaus getragen, weil es dort etwas luftiger war. Von dem Ruhelager aus starrte er durch den offenen Fensterladen hinaus. Es gab eine Wallung in der Masse menschlicher Leiber, und das Weib mit dem helmartigen Kopfputz und den lohfarbenen Wangen stürzte bis an die Uferkante vor. Sie streckte ihre Hände aus, schrie etwas, und die ganze wilde Menge nahm den Schrei brüllend auf, in einem knappen, schnellen, atemlosen Chor.

›Verstehen Sie das?‹ fragte ich.

Er fuhr fort, mit fahrigen, verlangenden Blicken an mir vorbeizusehen, mit einem Ausdruck, aus Sehnsucht und Haß gemischt. Er antwortete nicht, aber ich sah ein Lächeln, ein unerklärliches Lächeln auf seinen farblosen Lippen erscheinen, die im Augenblick darauf krampfhaft zuckten. ›Etwa nicht?‹ sagte er langsam und keuchte, als wären ihm die Worte durch eine übernatürliche Macht genommen worden.

Ich zog die Dampfpfeife, und zwar deswegen, weil ich sah, wie die Pilger an Deck, wie in Erwartung eines lustigen Streiches, ihre Gewehre fertigmachten. Bei dem plötzlichen Aufheulen der Dampfpfeife rann eine Bewegung furchtbaren Entsetzens durch das gedrängte Meer von Körpern. ›Nicht! nicht! Sie verjagen sie‹, rief jemand vom Deck enttäuscht herauf. Ich zog ein ums andere Mal die Leine. Sie wandten sich und rannten, sprangen, krochen, verbargen sich zitternd vor dem fliegenden Schrecken des Tons. Die drei roten Kerle hatten sich, das Gesicht gegen den Boden, am Ufer flach hingeworfen, als hätte man sie totgeschossen. Nur das barbarisch prunkvolle Weib zuckte nicht und streckte mit tragischer Gebärde die nackten Arme über den düster glitzernden Strom nach uns aus.

Und dann begannen die Dummköpfe unten auf Deck mit ihrem kleinen Spaß, und ich konnte vor Rauch nichts mehr sehen.

Der dunkle Strom rann schnell aus dem Herzen der Finsternis hinaus und trug uns doppelt so schnell, wie wir heraufgefahren waren, der Küste zu; und auch Kurtz' Leben rann schnell dahin, verebbte aus seinem Herzen in das unerbittliche Meer der Zeit. Der Direktor war sehr sanftmütig, ihm blieben keine besonderen Ängste mehr, er umfaßte uns beide mit einem verständnisvollen und befriedigten Blick: die ›Geschichte‹ war so gut ausgegangen, wie er es sich nur hatte wünschen können.

Ich sah den Zeitpunkt nahe, da ich allein von den Anhängern der ›ungesunden Methode‹ übrig sein würde. Die Pilger folgten mir mit mißgünstigen Blicken. Ich wurde sozusagen schon zu den Toten gerechnet. Es ist merkwürdig, daß ich mir diese Einreihung gefallen ließ. Diese Wahl unter Ungeheuern, die mir in dem finstern Land von elenden, gierigen Gespenstern aufgezwungen worden war.

Kurtz sprach. Eine Stimme! Eine Stimme! Sie dröhnte tief, bis zuletzt. Sie überlebte seine Kraft, damit er unter dem Prunkgewand der Beredsamkeit die öde Nacht seines Herzens verbergen könnte. Oh, er kämpfte! Er kämpfte! Durch die Wüsten seines müden Hirnes zuckten nun schattenhafte Bilder, Bilder von Wohlstand und Ruhm, die seine unbesiegbare Gabe gehobener, edler Sprechweise immer neu erstehen ließ. ›Meine Braut, meine Stationen, meine Laufbahn, meine Ideen‹ – das waren die Ausgangspunkte für die gelegentliche Darlegung schöner Gefühle. Der Schatten des ursprünglichen Kurtz stand neben dem Krankenlager des hohläugigen Trugbildes, dem es in Kürze bevorstand, in jungfräulicher Erde bestattet zu werden. Sowohl der teuflische Hang zu den Mysterien wie auch der unirdische Haß dagegen, durch die diese Seele, von urweltlichen Erlebnissen gesättigt, gegangen war, machten einander nun ihren Platz streitig und äußerten sich in der Gier nach falschem Ruhm, erschlichener Auszeichnung, nach all den äußeren Merkmalen von Erfolg und Macht.

Mitunter war er unangenehm kindisch. Er wollte von Königen am Bahnhof empfangen werden bei seiner Rückkehr von einem gespenstigen Nirgendwo, wo er seine großen Pläne verwirklicht haben würde. ›Wenn man ihnen zeigt, daß man wirklich brauchbar ist, dann nehmen die Loblieder kein Ende‹, pflegte er zu sagen. ›Natürlich muß man auf die Beweggründe achten und sie immer sorgfältig wählen.‹ – Lange, gerade Strecken, die einander aufs Haar glichen, ebenso wie die eintönigen Ufer, glitten am Dampfer vorbei; zahllose hundertjährige Bäume sahen gleichgültig hinter diesem kümmerlichen Bruchstück einer anderen Welt drein, dem Vorboten des Wechsels, der Eroberung, des Handels, des Gemetzels und der Segnungen. Ich sah geradeaus und steuerte. ›Schließen Sie den Laden‹, sagte Kurtz eines Tages unvermittelt. ›Ich kann es nicht ertragen, das noch zu sehen.‹ Ich tat es. Es gab ein Schweigen. ›Oh, ich will dir schon noch das Herz aus dem Leibe reißen‹, schrie er der unsichtbaren Wildnis zu.

Unsere Maschine versagte – wie ich es erwartet hatte –, und wir mußten, um den Schaden auszubessern, an der Spitze einer Insel anlegen. Diese Verzögerung war es, die zuerst Kurtz' Vertrauen erschütterte. Eines Morgens gab er mir ein Paket Papiere, das Ganze mit einem Schuhband zusammengeschnürt. ›Bewahren Sie das für mich auf‹, sagte er. ›Dieser kümmerliche Narr‹, damit meinte er den Direktor, ›ist imstande, meine Koffer zu durchwühlen, wenn ich gerade nicht dabei bin.‹ Nachmittags sah ich ihn wieder. Er lag auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, und ich zog mich ruhig zurück, hörte ihn aber murmeln: ›Recht leben, sterben, sterben ...‹ Ich horchte. Es kam nichts weiter. Wiederholte er im Schlaf irgendeine Rede oder war es ein Bruchstück aus einem Leitartikel? Er hatte für die Zeitungen geschrieben und gedachte es wieder zu tun, ›für die Verbreitung meiner Ideen. Es ist eine Pflicht.‹

Die Dunkelheit, in der er lebte, war undurchdringlich. Ich beobachtete ihn, wie man zu einem Mann hinunterspäht, der auf dem Boden eines Abgrundes liegt, wohin die Sonne nie scheint. Doch hatte ich nicht viel Zeit für ihn übrig, denn ich half dem Maschinisten beim Auseinandernehmen der lecken Zylinder, dem Strecken einer verbogenen Verbindungsstange und bei ähnlichen solchen Verrichtungen. Ich lebte inmitten eines höllischen Wirrwarrs von Rost, Feilspänen, Schraubenmuttern, Bolzen, Schraubenschlüsseln, Hämmern und Drillbohrern – lauter Dingen, die ich verabscheue, weil ich damit nicht zurechtkomme. Ich richtete die kleine Feldschmiede her, die wir glücklicherweise an Bord hatten, und arbeitete unaufhörlich unter dem Gerümpel herum – außer wenn ich zu starken Schüttelfrost hatte, um auf den Beinen stehen zu können.

Als ich eines Abends mit einer Kerze zu ihm hineinkam, war ich überrascht, ihn etwas zitterig sagen zu hören: ›Da liege ich im Dunkel und erwarte den Tod!‹ Das Licht war kaum mehr als eine Spanne von seinen Augen entfernt. Ich zwang mich zu einem gemurmelten: ›Ach, Unsinn!‹ und blieb wie angenagelt über ihn gebeugt.

Etwas, das auch nur im entferntesten an den Wechsel hingereicht hätte, der sich in seinen Zügen vollzog, habe ich noch nie zuvor gesehen und hoffe es auch nie wieder zu sehen. Oh, ich war nicht gerührt. Ich war wie gebannt. Es schien, als wäre ein Schleier gerissen. Ich sah auf dem Elfenbeingesicht den Ausdruck düsteren Stolzes, unbarmherziger Herrschsucht, feiger Angst – und tiefer, hoffnungsloser Verzweiflung. Durchlebte er, in jenem äußersten Augenblick völligen Wissens, sein Leben nochmals, mit jeder einzelnen Begierde, Versuchung und Schwäche? Er schrie in einem Flüstern einem Bild, einem Gesicht zu – schrie es zweimal, wenn es auch kaum lauter klang als ein Hauch:

›Das Grauen! Das Grauen!‹

Ich blies die Kerze aus und verließ die Kabine. Die Pilger aßen im Meßraum zu Nacht, und ich nahm meinen Platz gegenüber dem Direktor ein; er hob die Augen, um mir einen fragenden Blick zuzuwerfen, den ich aber mit Erfolg übersah. Er lehnte sich zurück, heiter und mit dem gewissen Lächeln, das die unausgesprochenen Tiefen seiner Gemeinheit versiegelte. Ein unaufhörlicher Schauer kleiner Fliegen umsurrte die Lampe, das Tischtuch, unsere Hände und Gesichter. Plötzlich steckte der Boy des Direktors seinen unverschämten, schwarzen Kopf durch die Türe und sagte im Ton äußerster Verachtung:

›Mistah Kurtz – er tot.‹

Alle die Pilger stürzten hinaus, um nachzusehen. Ich blieb zurück und beendete mein Abendessen. Ich glaube, sie hielten mich für unerhört hartherzig. Essen konnte ich aber doch nicht viel. Nur – dort drinnen brannte eine Lampe – es war hell, versteht ihr – und draußen war es so schrecklich, schrecklich dunkel. Ich ging nicht mehr in die Nähe des bemerkenswerten Mannes, der über das Erdenwallen seiner Seele ein solches Urteil gefällt hatte. Die Stimme war dahin. Was sonst war da gewesen? Aber ich weiß natürlich, daß die Pilger am nächsten Tage irgend etwas in einem Schlammloch vergruben.

Und dann begruben sie um ein Haar auch mich.

Aber wie ihr seht, verschwand ich damals noch nicht, um Kurtz zu folgen. Das tat ich nicht. Ich blieb zurück, um den bösen Traum zu Ende zu träumen und um noch ein letztes Mal Kurtz meine Treue zu beweisen. Schicksal! Mein Schicksal! Ein komisches Ding, das Leben – der geheimnisvolle Aufwand so unerbittlicher Logik für das so unwichtige Ende. Das meiste, was man davon erwarten kann, ist ein wenig Wissen über einen selbst – das zu spät kommt – ein Übermaß unauslöschlicher Reue. Ich habe mit dem Tode gerungen. Es ist der langweiligste Kampf, den man sich vorstellen kann. Er findet in einem grauen Dämmern statt, man hat keinen Boden unter den Füßen, nichts um sich, keine Zuschauer; es gibt keinen Lärm, keinen Ruhm, der heiße Wille zum Sieg fehlt genauso, wie die große Angst vor der Niederlage; eine peinlich laue Zweifelsucht ist da, nicht aber der Glaube an das eigene Recht und noch weniger der an das Recht des Gegners. Wenn das die letzte Weisheit ist, dann ist das Leben ein größeres Rätsel, als einige von uns glauben. Ich stand haarscharf vor der allerletzten Möglichkeit für eine Erklärung und fand zu meiner Demütigung, daß ich wahrscheinlich nichts zu sagen haben würde. Das ist der Grund, weshalb ich behaupte, daß Kurtz ein hervorragender Mann war. Er hatte etwas zu sagen. Er sagte es. Seitdem ich selbst um die Ecke gelugt habe, verstehe ich auch den Sinn dieses Blickes besser, der zwar nicht die Kerzenflamme sehen konnte, aber doch weit genug war, um die ganze Welt zu umfassen, scharf genug, um alle Herzen, die in der Finsternis schlagen, zu durchdringen. Er hatte eine Summe gezogen – er hatte geurteilt. ›Das Grauen!‹ Er war ein hervorragender Mann. Schließlich war auch das der Ausdruck einer Art von Glaube. Er war offen, von Überzeugung getragen; in seinem Flüstern zitterte Aufruhr mit, ein Funke Wahrheit – und es zeigte die eigene Mischung von Begierde und Haß. Und nicht meine eigene Krise ist es, an die ich mich am besten erinnere – sie scheint mir ganz grau in grau, formlos, von körperlichen Schmerzen erfüllt und von einer nachlässigen Verachtung für die Vergänglichkeit aller Dinge – und gar noch dieser Schmerzen selbst. Nein! Seine letzten Augenblicke sind es, die ich durchlebt zu haben schien. Gewiß, er hat diesen letzten Schritt getan, war um die Ecke herum gegangen, während es mir erlaubt worden war, den zögernden Fuß zurückzuziehen. Und vielleicht liegt darin der ganze Unterschied; vielleicht ist alle Weisheit, alle Wahrheit, alle Aufrichtigkeit in den einen unschätzbaren Augenblick zusammengedrängt, in dem wir die Schwelle zum Unsichtbaren überschreiten. Vielleicht! Ich hoffe, daß mein Schlußwort nicht etwa auch nachlässige Verachtung bekundet hätte. Weit besser sein Aufschrei – weit besser. Er war eine Bekräftigung, ein moralischer Sieg, für den er mit zahllosen Niederlagen gezahlt hatte, mit unendlichen Greueln und furchtbaren Ausschweifungen. Aber es war ein Sieg! Das ist der Grund, warum ich Kurtz bis zuletzt die Treue bewahrt habe und sogar noch darüber hinaus, als ich, lange Zeit nachher, noch einmal, nicht seine eigene Stimme hörte, sondern das Echo seiner wunderbaren Beredsamkeit, das mir aus einer Seele, durchsichtig klar wie ein kristallener Fels, zugeworfen wurde.

Nein, sie begruben mich nicht, obwohl es eine Zeitspanne gibt, an die ich mich nur nebelhaft erinnere, mit einer fröstelnden Verwunderung, wie an die Durchquerung einer unbegreiflichen Welt, in der es keine Hoffnung und keine Sehnsucht gab. Ich fand mich in der Grabesstadt wieder und litt unter dem Anblick der Leute, die durch die Straßen eilten, um einander ein wenig Geld abzuknöpfen, ihre unwürdige Kost zu verschlingen, ihr unmögliches Bier hinunterzuschütten, ihre unbedeutenden, dummen Träume zu träumen. Sie verwirrten meine Gedankengänge. Sie waren Eindringlinge, deren Wissen vom Leben mir eine aufreizende Anmaßung schien, denn ich war sicher, daß sie die Dinge nicht wissen konnten, die ich wußte. Ihr Gebaren, das ganz einfach das von Durchschnittsmenschen war, die im Bewußtsein völliger Sicherheit an ihre Geschäfte gehen, machte mich rasend, als hätten sie sich angesichts einer Gefahr, die sie nicht verstanden, in närrischem Getue gefallen. Ich fühlte keine besondere Sehnsucht, sie aufzuklären, mußte mich aber zurückhalten, um ihnen nicht gerade in die Gesichter zu lachen, die so voll dummer Wichtigkeit waren. Ich kann wohl sagen, daß mir die ganze Zeit über nicht recht wohl war. Ich schlenderte durch die Straßen – es gab verschiedene Geschäfte zu erledigen – und grinste durchaus ehrenwerte Personen bitter an. Ich gebe zu, daß mein Benehmen unentschuldbar war, meine Temperatur aber war ja in jenen Tagen auch selten normal. Die Bemühungen meiner lieben Tante, mich wieder ›aufzupäppeln‹, schienen zur Fruchtlosigkeit verdammt. Nicht meine Körperkraft war es, die ein Aufpäppeln brauchte, sondern meine Einbildungskraft mußte beruhigt werden. Ich bewahrte das Briefpaket, das Kurtz mir gegeben hatte, auf, ohne genau zu wissen, was ich damit tun sollte. Seine Mutter war kürzlich gestorben, gepflegt, wie man mir sagte, von des Sohnes Braut. Ein glattrasierter Mann von amtlichem Gebaren, mit goldgefaßter Brille, besuchte mich eines Tages und forschte erst unauffällig, dann mit leisem Nachdruck nach gewissen Dingen, die er ›Dokumente‹ zu nennen beliebte. Ich war nicht überrascht, denn ich hatte schon dort draußen deswegen zweimal Streit mit dem Direktor gehabt. Ich hatte es abgelehnt, auch nur den kleinsten Zettel aus dem Paket herauszurücken, und nahm nun auch dem bebrillten Mann gegenüber die gleiche Haltung ein. Schließlich wurde er dumpf drohend, behauptete recht hitzig, daß die Gesellschaft ein Recht auf jede kleinste Auskunft hätte, die aus ihren Territorien stammte, und meinte: ›Herrn Kurtz' Kenntnisse der unerforschten Gebiete scheinen bestimmt tiefreichend und eigenartig zu sein – wegen seiner großen Fähigkeiten und der bedauernswerten Verhältnisse, in die er geraten war: darum –‹ Ich versicherte ihm, daß Herrn Kurtz' Kenntnisse, wie tiefreichend sie auch gewesen sein mochten, sich weder auf Handels- noch Verwaltungsprobleme erstreckten. Dann rief er den Namen der Gesellschaft an: ›Es wäre ein unberechenbarer Schaden, wenn ...‹ und so weiter. Ich bot ihm den Bericht über ›Die Unterdrückung wilder Sitten‹ an, von dem ich die Nachschrift abgerissen hatte. Er nahm ihn hastig entgegen, gab ihn aber bald mit einem verächtlichen Naserümpfen zurück. ›Das ist es nicht, was wir ein Recht hatten, zu erwarten‹, bemerkte er. ›Erwarten Sie nichts weiter‹, sagte ich. ›Es gibt nur noch Privatbriefe.‹ Er zog sich unter Androhung gesetzlicher Schritte zurück, und ich sah ihn nie wieder; zwei Tage später aber erschien ein anderer Bursche, der sich Kurtz' Vetter nannte und sich ernstlich besorgt zeigte, alle Einzelheiten über die letzten Augenblicke seines lieben Verwandten zu erfahren. Beiläufig gab er mir zu verstehen, daß Kurtz im Grunde ein großer Musiker gewesen sei. ›Er hätte es zu fabelhaften Erfolgen bringen können‹, sagte der Mann, der, soviel ich weiß, ein Organist war, mit schlichtem grauem Haar, das ihm über den fettigen Rockkragen fiel. Ich hatte keinen Grund, seine Behauptungen anzuzweifeln; und bis heute kann ich noch nicht sagen, was Kurtz' Beruf war, ob er überhaupt je einen hatte, und welches das stärkste seiner Talente war. Ich hatte ihn für einen Maler gehalten, der für die Zeitungen schrieb, oder für einen Journalisten, der malen konnte – doch sogar der Vetter (der während unserer Unterhaltung Tabak schnupfte) konnte mir nicht sagen, was er eigentlich gewesen war. Er war ein Universalgenie – darin stimmte ich mit dem alten Knaben überein, der sich daraufhin geräuschvoll in ein großes baumwollenes Taschentuch schneuzte und in greisenhafter Aufregung davonging, nachdem er einige Familienbriefe und Aufzeichnungen ohne Bedeutung an sich genommen hatte. Schließlich tauchte noch ein Journalist auf, der begierig schien, etwas über das Schicksal seines ›lieben Kollegen‹ zu erfahren. Dieser Besuch unterrichtete mich, daß Kurtz' eigentliches Wirkungsgebiet die ›Politik für das Volk‹ hätte sein sollen. Der Mann hatte buschige, gerade Augenbrauen, kurzgeschorenes, borstiges Haar, trug ein Augenglas an breitem Band und gestand mir, als er etwas wärmer geworden war, daß seiner Überzeugung nach Kurtz überhaupt nicht schreiben konnte – ›aber, bei Gott, wie konnte der Mann reden! Er riß ganze Versammlungen mit sich fort. Er hatte Glauben, verstehen Sie mich? Er hatte den Glauben. Er konnte sich dazu bringen, alles zu glauben, einfach alles. Er hätte für eine extreme Partei einen glänzenden Führer abgegeben.‹ – ›Was für eine Partei?‹ fragte ich. ›Irgendeine Partei‹, antwortete der andere. ›Er war ein – ein – Extremist.‹ Ob ich nicht auch so dächte? Ich stimmte ihm bei. In einem plötzlichen Aufblitzen von Neugierde fragte er mich, ob ich wüßte, was ihn dazu gebracht hatte, hinauszugehen. – ›Jawohl‹, sagte ich und händigte ihm sofort den berühmten Bericht zur Veröffentlichung aus, falls er ihm passend erscheinen sollte. Er überflog ihn hastig, murmelte dabei unaufhörlich vor sich hin, meinte, es würde schon gehen und verschwand mit seiner Beute.

So blieb mir schließlich nur noch ein dünnes Paket Briefe und das Bild des Mädchens. Sie kam mir wunderschön vor, ich meine, ihr Ausdruck war wunderschön. Ich weiß ja, daß man auch das Sonnenlicht dazu bringen kann, zu lügen, und doch fühlte man, daß keine geschickte Zurechtmachung von Licht und Stellung den zarten Schimmer über dieses Gesicht gelegt haben konnte. Sie schien bereit, zuzuhören ohne inneren Vorbehalt, ohne Mißtrauen, ohne jeden Gedanken an sich selbst. Ich beschloß, hinzugehen und ihr das Bild und die Briefe persönlich zu übergeben. Neugierde? Gewiß. Und vielleicht auch noch ein anderes Gefühl. Alles, was Kurtz einmal besessen hatte, war mir aus den Händen geglitten; seine Seele, sein Leib, seine Station, seine Pläne, sein Elfenbein, seine Laufbahn. Es blieb nur noch sein Andenken und seine Braut – und ich wünschte, auch das in gewisser Beziehung der Vergangenheit zu übergeben, alles, was mir von ihm blieb, dem Vergessen zu überlassen, das das letzte Ende unseres gemeinsamen Schicksals ist. Ich verteidige mich nicht. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, was ich eigentlich wollte. Vielleicht war es eine Regung unbewußter Anständigkeit, oder es geschah unter dem Druck einer der spöttischen Notwendigkeiten, die sich hinter den Tatsachen des menschlichen Lebens verbergen. Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sagen. Aber ich ging.

Ich denke, die Erinnerung an ihn war wie die anderen Erinnerungen an Tote, die sich in jedes Mannes Leben anhäufen – ein leichter Eindruck im Hirn von Schatten, die sich im raschen Vorbei abgeprägt haben; doch vor dem hohen, wuchtigen Tor, zwischen den mächtigen Häusern einer Straße, die still und ehrwürdig wirkten wie eine gut gehaltene Allee in einem Friedhof, stand plötzlich sein Bild wieder vor mir, wie er auf der Bahre lag und gefräßig den Mund öffnete, als wollte er die ganze Erde mit all ihren Bewohnern verschlingen. Er stand geradezu lebendig vor mir – lebendig, wie er es je gewesen war – ein Schatten, der sich unersättlich nach prunkvoller Umgebung, nach furchtbarer Wirklichkeit sehnte. Ein Schatten, dunkler als der der Nacht, und edel in die Fluten einer übermenschlichen Beredsamkeit gehüllt. Das Bild schien mich in das Haus hineinzubegleiten – die Bahre mit ihren gespenstischen Trägern, die wilde Schar der ehrfürchtigen Anbeter, das Waldesdüster, das Glitzern des Stromes zwischen den dunklen Ufern, die Schläge der Trommel, regelmäßig und dumpf wie die eines Herzens – des Herzens der siegreichen Finsternis. Es war ein Augenblick des Triumphes für die Wildnis, ein jähes, rachsüchtiges Vordringen, das ich, so schien es mir, ganz allein würde aufzuhalten haben, um des Heiles einer anderen Seele willen. Und die Erinnerung daran, was ich ihn dort, weit weg, sagen gehört hatte, während die Gehörnten sich hinter meinem Rücken im Flammenschein, im Schweigen der Wälder regten, diese abgerissenen Sätze kamen mir wieder in den Sinn, waren wieder in ihrer furchtbaren, schicksalhaften Einfalt zu hören. Ich erinnerte mich an seine verworfene Beweisführung, seine verbrecherischen Drohungen, das ungeheure Maß seiner niedrigen Lüste, die Verkommenheit, die Qualen und die entsetzliche Angst seiner Seele. Gleich darauf glaubte ich ihn wieder gefaßt und gleichmütig vor mir zu sehen, wie er mir eines Tages sagte: ›Dieser Posten Elfenbein gehört tatsächlich mir. Die Gesellschaft hat nichts dafür bezahlt. Ich habe ihn selbst unter ziemlich großer, persönlicher Gefahr zusammengetragen. Hm, es ist ein schwieriger Fall. Was glauben Sie, was ich tun sollte – Widerstand leisten? Wie? Ich will nichts weiter als Gerechtigkeit ...‹ Er wollte nichts weiter als Gerechtigkeit – nichts weiter als Gerechtigkeit. Ich zog die Glocke vor einer Mahagonitür im ersten Stock, und während ich wartete, schien er mich aus den Glasscheiben anzustarren, mit dem weiten, ungeheuren Blick, der die ganze Welt umfaßte, verdammte und verabscheute. Ich glaubte, den geflüsterten Schrei zu hören: ›Das Grauen! das Grauen!‹

Die Dämmerung fiel ein. Ich hatte in einem luftigen, winzigen Wohnzimmer zu warten, mit drei hohen Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und wie drei leuchtende, verhängte Säulen wirkten. Die geschnitzten, vergoldeten Beine und Ränder der Möbel leuchteten in undeutlichen Umrissen. Der hohe Marmorkamin wirkte weiß und kalt wie ein Denkmal. Ein großes Pianino stand massig in einer Ecke, mit trüben Glanzlichtern da und dort, wie ein düsterer, polierter Sarkophag. Eine hohe Tür ging auf, schloß sich. Ich erhob mich.

Sie kam mir entgegen, ganz in Schwarz, mit einem blassen Haupt, das durch das Dunkel auf mich zuhielt. Sie war in Trauer. Es war mehr als ein Jahr seit seinem Tode, mehr als ein Jahr her, seitdem die Nachricht gekommen war. Es schien, als wollte sie nie vergessen und ewig trauern. Sie nahm meine beiden Hände in die ihren und murmelte: ›Ich hatte gehört, daß Sie kommen würden.‹ Ich bemerkte, daß sie nicht sehr jung war – ich meine, nicht mädchenhaft. Sie war wirklich fähig, Treue, Glaube und Liebe zu geben. Der Raum schien dunkler geworden, als hätte sich all das trübe Licht des wolkigen Abends auf ihre Stirn geflüchtet. Dies blendende Haar, das blasse Gesicht, die reinen Brauen schienen von einem silberigen Schein umgeben, aus dem mich die dunklen Augen anblickten. Ihr Blick war arglos, tief, zutraulich und treu. Sie trug ihr bekümmertes Haupt, als wäre sie stolz auf ihren Kummer, als wollte sie sagen: ›Ich, ich allein weiß um ihn zu trauern, wie er es verdient.‹ Noch während wir uns die Hände schüttelten, kam ein Ausdruck so furchtbarer Trostlosigkeit über ihr Gesicht, daß ich sie als eines der Geschöpfe erkannte, die nicht zum Spielzeug der Zeit geboren sind. Für sie war er erst gestern gestorben – nein, in dieser selben Minute. Ich sah sie und ihn im gleichen Augenblick – seinen Tod und ihren Kummer – ich sah ihren Kummer im Augenblick seines Todes. Versteht ihr das? Ich sah sie zugleich, ich hörte sie zugleich. Sie hatte mit einem tiefen Atemzug gesagt: ›Ich bin übriggeblieben.‹ Mit dieser verzweifelten Klage vermengt, glaubten meine gespannten Ohren deutlich das letzte Flüstern zu hören, das seine ewige Verdammnis anzeigte. Ich fragte mich, was ich da tat, und hatte dabei ein Gefühl von Panik, als hätte ich mich an einen Ort gewagt, wo grausame, sinnlose Mysterien abgehalten wurden, denen kein menschliches Wesen beiwohnen durfte. Sie forderte mich auf, Platz zu nehmen. Wir setzten uns. Ich legte das Paket langsam auf den kleinen Tisch und sie legte die Hand darüber ... ›Sie kannten ihn gut‹, murmelte sie nach einem kurzen und traurigen Schweigen.

›Die Vertrautheit bildet sich da draußen schnell heraus‹, sagte ich. ›Ich kannte ihn so gut, wie ein Mann überhaupt einen andern kennen kann.‹

›Und Sie bewunderten ihn‹, sagte sie. ›Es war unmöglich, ihn zu kennen, ohne ihn zu bewundern, nicht wahr?‹

›Er war ein hervorragender Mensch‹, sagte ich unsicher. Dann fuhr ich unter dem eindringlichen Starren ihres Blickes, der nach weiteren Worten auf den Lippen zu spähen schien, fort: ›Es war unmöglich, ihn nicht ...‹

›Zu lieben‹, ergänzte sie hastig, so daß ich bestürzt schwieg. ›Wie wahr! wie wahr! Wenn Sie aber bedenken, daß niemand ihn so gut kannte, wie ich! Ich besaß sein kostbares Vertrauen. Ich kannte ihn am besten.‹

›Sie kannten ihn am besten‹, wiederholte ich. Und vielleicht tat sie das. Doch mit jedem Wort, das gesprochen wurde, verdüsterte sich der Raum mehr und mehr, und nur ihre Stirn, glatt und weiß, blieb von dem unauslöschlichen Licht von Glaube und Liebe erhellt.

›Sie waren sein Freund‹, fuhr sie fort. ›Sein Freund‹, wiederholte sie ein wenig lauter. ›Sie müssen es gewesen sein, wenn er Ihnen dies gegeben und Sie zu mir geschickt hat. Ich fühle, daß ich zu Ihnen sprechen kann und, oh! Ich muß sprechen. Ich möchte, daß Sie – Sie, der sein letztes Wort gehört hat, wissen, daß ich seiner wert war ... Es ist nicht Stolz ... Jawohl! ich bin stolz darauf, zu wissen, daß ich ihn besser verstand als sonst jemand auf der Erde – das hat er mir selbst gesagt. Und seit seine Mutter tot ist, habe ich niemand gehabt, niemand, mit dem ...‹

Ich hörte zu. Das Dunkel vertiefte sich. Ich war nicht einmal sicher, ob er mir das rechte Paket gegeben hatte. Ich glaube sogar, er wollte, daß ich auf ein ganz anderes Bündel seiner Papiere aufpassen sollte, das ich nach seinem Tode den Direktor unter der Lampe durchblättern sah. Und das Mädchen sprach, und ihr Schmerz löste sich in der Gewißheit meiner Zuneigung; sie sprach, wie durstige Menschen trinken. Ich hatte gehört, daß ihre Verlobung mit Kurtz von ihrer Familie mißbilligt worden war. Er war nicht reich genug gewesen, oder sonst etwas. Und tatsächlich weiß ich nicht, ob er nicht zeit seines Lebens arm war. Er hatte mir einigen Grund zu der Annahme gegeben, daß es die Auflehnung gegen seine verhältnismäßige Armut gewesen war, die ihn dort hinausgeführt hatte.

›... Wer wäre nicht sein Freund gewesen, der ihn je sprechen gehört hat‹, sagte sie. ›Er zog die Menschen durch das Beste in ihnen an sich.‹ Sie sah mir fest ins Gesicht. ›Das ist die Gabe der ganz Großen‹, fuhr sie fort, und ihre leise Stimme schien von all den anderen Klängen getragen, voll von Geheimnis, Verzweiflung und Kummer, die ich je gehört hatte – dem Rauschen des Stromes, dem Seufzen der Bäume im Sturm, dem Murmeln einer aufgeregten Menge, unverständlichen Worten, kaum noch hörbar, von weit weg gerufen, dem Flüstern einer Stimme, die von jenseits der Schwelle zur ewigen Finsternis sprach. ›Aber Sie haben ihn ja gehört! Sie wissen es!‹ rief sie.

›Jawohl, ich weiß es‹, sagte ich, etwas wie Verzweiflung im Herzen, beugte mich aber dabei vor dem Glauben, der in ihr war, vor dem großen, rettenden Trugbild, das mit unirdischer Glut durch die Dunkelheit leuchtete, durch die siegreiche Dunkelheit, vor der ich sie nicht hätte schützen können, vor der ich mich selbst nicht einmal schützen konnte.

›Welch ein Verlust für mich – für uns!‹ verbesserte sie sich mit herrlicher Großmut. Dann fügte sie murmelnd hinzu ›für die Welt‹. Im letzten Schimmer des Zwielichts konnte ich das Glitzern ihrer Augen sehen, die voll von Tränen waren – von Tränen, die nicht fallen wollten.

›Ich bin sehr glücklich gewesen – richtig begnadet – sehr stolz‹, fuhr sie fort. › Zu glücklich, eine kleine Weile lang. Und nun bin ich unglücklich – fürs Leben.‹

Sie stand auf; ihr blendendes Haar schien den letzten Rest von Licht in goldenem Leuchten aufzufangen. Auch ich erhob mich.

›Und von all dem‹, fuhr sie traurig fort, ›von allen seinen Hoffnungen, seiner Größe, seinem edlen, vornehmen Herzen bleibt nichts übrig – nichts als eine Erinnerung. Sie und ich ...‹

›Wir werden immer an ihn denken‹, sagte ich hastig.

›Nein‹, rief sie. ›Es ist unmöglich, daß all dies verloren sein – daß ein solches Leben geopfert worden sein sollte, um nichts hinter sich zulassen als Trauer. Sie wissen, daß er große Pläne hatte. Auch ich wußte davon. – Ich konnte sie vielleicht nicht verstehen – doch andere wußten davon. Etwas muß übrigbleiben. Seine Worte zumindest sind nicht gestorben.‹

›Seine Worte werden bleiben‹, sagte ich.

›Und sein Beispiel‹, flüsterte sie zu sich selbst. ›Die Menschen sahen zu ihm auf, seine Güte leuchtete aus jeder seiner Handlungen, sein Beispiel ...‹

›Das ist ›wahr‹, sagte ich, ›auch sein Beispiel. Jawohl, sein Beispiel. Ich vergesse das.‹

›Ich aber nicht. Ich kann es – kann es nicht glauben – jetzt noch nicht. Ich kann nicht glauben, daß ich ihn nie wieder sehen soll, daß niemand ihn je wieder sehen soll. Nie, niemals wieder.‹

Sie streckte die Arme aus wie nach einer zurückweichenden Gestalt, streckte sie schwarz, mit gefalteten, bleichen Händen quer durch den schmalen, mattschimmernden Lichtstreifen des Fensters. Ihn nie wieder sehen! Ich sah ihn eben damals deutlich genug. Ich werde dieses beredte Gespenst sehen, solange ich lebe, werde auch sie sehen, einen tragischen, vertrauten Schatten, sie, die mich in dieser Gebärde an eine andere tragische Gestalt erinnerte; an die andere, die, mit unwirksamen Zaubermitteln bedeckt, nackte, braune Arme über das höllische Glitzern des Stromes, des Stromes der Finsternis, ausgestreckt hatte. Sie sagte plötzlich sehr leise: ›Er starb, wie er gelebt hatte.‹

›Sein Ende‹, sagte ich, während sich ein dumpfer Ärger in mir regte, ›war in jeder Hinsicht seines Lebens würdig.‹

›Und ich war nicht bei ihm‹, murmelte sie. Mein Ärger machte einem Gefühl endlosen Mitleids Platz.

›Alles, was getan werden konnte ...‹, murmelte ich.

›Oh, aber ich glaubte stärker an ihn als irgend jemand sonst auf Erden – mehr als seine eigene Mutter, mehr als er selbst. Er brauchte mich! Mich! Ich hätte jeden Seufzer, jedes Wort, jedes Zeichen, jeden Blick wie einen Schatz aufbewahrt.‹

Ich fühlte es wie eine eisige Hand auf meiner Brust. ›Nicht!‹ sagte ich mit erstickter Stimme.

›Vergeben Sie mir. Ich – ich – habe – lange schweigend getrauert, schweigend ... Sie waren bei ihm – bis zuletzt. Ich denke an seine Einsamkeit. Niemand ihm nahe, um ihn zu verstehen, wie ich ihn verstanden hätte. Vielleicht auch niemand, um zu hören ...‹

›Bis ganz zuletzt‹, sagte ich bebend. ›Ich hörte seine letzten Worte ...‹ Damit brach ich erschreckt ab.

›Wiederholen Sie sie‹, sagte sie in größtem Schmerz. ›Ich will – ich will – etwas – etwas, um – um damit weiterleben zu können.‹

Ich war hart daran, ihr zuzuschreien: ›Hören Sie sie nicht?‹ Das Dunkel wiederholte sie rings um uns, hartnäckig flüsternd, in einem Flüstern, das drohend anzuschwellen schien, wie das erste Flüstern eines erwachenden Sturms: ›Das Grauen! Das Grauen!‹

›Sein letztes Wort – und damit weiterleben zu können‹, murmelte sie. ›Verstehen Sie nicht, daß ich ihn liebte – ihn liebte, ihn liebte!‹

Ich riß mich zusammen und sagte langsam:

›Das letzte Wort, das er aussprach, war – Ihr Name.‹

Ich hörte einen leichten Seufzer, und dann stand mein Herz still, hielt unvermittelt an, vor einem furchtbaren, jubelnden Aufschrei, vor einem Schrei unbegreiflichen Triumphs und unaussprechlichen Schmerzes. ›Ich wußte es, wußte es gewiß! ...‹ Sie wußte es. Wußte es gewiß. Ich hörte sie weinen; sie hatte das Gesicht in den Händen verborgen. Mir war es, als müßte das Haus einfallen, bevor ich noch entrinnen konnte, als müßte mir der Himmel auf den Kopf stürzen. Doch nichts geschah. Der Himmel stürzt wegen einer solchen Kleinigkeit nicht ein. Wäre er wohl eingestürzt, wenn ich Kurtz die Gerechtigkeit hätte widerfahren lassen, die er verdiente? Hatte er nicht selbst gesagt, daß er nichts weiter als Gerechtigkeit wünschte! Doch ich konnte es nicht. Ich konnte es ihr nicht sagen. Es wäre zu dunkel gewesen, allzu dunkel ...«

Marlow brach ab und saß undeutlich und schweigend da, in der Stellung des meditierenden Buddha. Niemand regte sich eine Zeitlang. »Wir haben den Anfang der Ebbe versäumt«, sagte der Direktor plötzlich. Ich hob den Kopf. Die Mündung war von einer schwarzen Wolkenbank umlagert, und die ruhige Wasserstraße, die zu den letzten Enden der Welt führte, strömte düster, unter bedecktem Himmel dahin, wie in das Herz einer ungeheueren Finsternis.


 
 
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