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Teil V

»Ich sah ihn an, in Verwunderung verloren. Da stand er vor mir, kostümiert, als wäre er einer Komödiantentruppe entlaufen, begeistert, unwahrscheinlich. Sein Dasein selbst war unwahrscheinlich, unerklärlich und ganz und gar verwunderlich. Er war ein unlösbares Problem. Es war unbegreiflich, wie er hatte leben, wie er hatte so weit kommen können, wie er es fertiggebracht hatte, durchzukommen – und warum er sich nicht im Augenblick in Nichts auflöste. ›Ich ging ein wenig weiter‹, sagte er, ›und dann noch ein wenig weiter – bis ich nun so weit gekommen bin, daß ich nicht mehr weiß, wie ich jemals zurückkehren soll. Macht nichts. Massenhaft Zeit. Wird sich schon finden. Nehmen Sie Kurtz schnell weg – schnell, sage ich Ihnen.‹ Der Zauber der Jugend überglänzte seine bunten Flicken, seine Verkommenheit und Einsamkeit, die trostlosen Male seines ziellosen Wanderns. Monate lang – Jahre lang, war sein Leben keinen Pfifferling wert gewesen; und da stand er nun vor mir, ganz springlebendig, hochherzig, unbekümmert und allem Anschein nach unantastbar, nur infolge seiner jungen Jahre und seiner bedenkenlosen Kühnheit. Ich fühlte mich zu etwas wie Bewunderung, ja Neid verleitet. Ein Zauber trieb ihn voran, ein Zauber hielt ihn unversehrt. Er verlangte sicher nichts weiter von der Wildnis als Raum, um atmen und immer weiter wandern zu können. Er wollte leben und unter den denkbar größten Gefahren und schlimmsten Entbehrungen sich weiterbewegen. Wenn je der völlig reine, nicht berechnende, wirklichkeitsfremde Abenteurergeist ein menschliches Wesen beherrscht hatte, so diesen flickenbesäten Jungen. Ich beneidete ihn beinahe um den Besitz der kleinen, klaren Flamme. Sie schien alle Gedanken an ihn selbst so gründlich aufgezehrt zu haben, daß man sogar, während er mit einem sprach, völlig vergaß, er selbst – der Mann da vor einem – sei durch alle diese Dinge gegangen. Seine Ergebenheit für Kurtz allerdings neidete ich ihm nicht. Darüber hatte er nicht gegrübelt. Die hatte ihn überkommen, und er hatte sie mit übereifrigem Fatalismus hingenommen. Ich muß sagen, daß mir diese Ergebenheit das weitaus Gefährlichste schien, was ihm je begegnen konnte.

Die Begegnung zwischen den beiden war unvermeidlich gewesen, wie die zweier Schiffe, die in einer Windstille festliegen und schließlich Seite an Seite getrieben werden. Ich nahm an, daß Kurtz einen Zuhörer wünschte, denn bei einer bestimmten Gelegenheit, als sie im Walde gelagert, hatten sie die ganze Nacht miteinander gesprochen, oder wahrscheinlicher: Kurtz hatte gesprochen. ›Wir sprachen von allem Möglichen‹, erzählte er, noch ganz hingerissen von seiner Erinnerung. ›Ich vergaß völlig, daß es so etwas wie Schlaf gab. Die ganze Nacht schien kaum eine Stunde zu währen. Über alles – über alles ... auch über Liebe.‹ – ›Oh, er hat mit Ihnen über Liebe gesprochen!‹ sagte ich sehr belustigt. ›Es ist nicht, was Sie glauben‹, unterbrach er mich fast leidenschaftlich. ›Es war ganz allgemein. Er ließ mich Dinge sehen – Dinge ...‹

Er warf die Arme hoch. Wir standen nebeneinander auf Deck, und der Häuptling meiner Holzfäller, der sich in der Nähe herumdrückte, wandte ihm seine schweren, glitzernden Augen zu. Ich sah in die Runde, und ich weiß nicht warum, aber ich versichere euch, daß nie, nie zuvor das Land, der Strom, das Dschungel und auch die Wölbung des strahlenden Himmels mir so hoffnungslos finster erschienen waren, undurchdringlich für jeden menschlichen Gedanken, so unbarmherzig gegen jede menschliche Schwäche. ›Und seither sind Sie natürlich immer bei ihm gewesen;‹ fragte ich.

Im Gegenteil. Es schien, daß ihr Verkehr aus verschiedenen Ursachen mehrfach unterbrochen worden war. Er hatte es fertiggebracht, wie er mir stolz mitteilte, Kurtz während zwei Krankheiten zu pflegen. (Das erwähnte er, als wäre es ein recht gefährliches Unternehmen gewesen.) Doch meistens wanderte Kurtz allein tief in den Wäldern herum. ›Oft, wenn ich in diese Station kam, hatte ich Tage und Tage lang zu warten, bis er auftauchte‹, sagte er. ›Oh, es war der Mühe wert, zu warten – manchmal.‹ – ›Was tat er? Forschen, oder was sonst‹‹ fragte ich. – ›O ja, natürlich.‹ Er hatte eine Menge Dörfer entdeckt, auch einen See – der Russe wußte nicht genau, in welcher Richtung; es war gefährlich, zuviel zu fragen – meistens aber hatten die Expeditionen dem Elfenbein gegolten. ›Er hatte aber doch schon längst keine Tauschwaren mehr‹, warf ich ein. – ›Sogar jetzt sind noch eine Menge Patronen übrig‹, meinte er und sah weg. ›Er plünderte also das Land, kurz gesagt‹, sagte ich. Der andere nickte. ›Doch nicht er allein?‹ Der Russe murmelte etwas über die Dörfer rund um den See. ›Kurtz hat den Stamm dazu gebracht, ihm zu folgen, ja?‹ riet ich. Er zauderte ein wenig. ›Sie beteten ihn an‹, sagte er. Der Ton dieser Worte war so außergewöhnlich, daß ich ihn forschend ansah. Das Gemisch aus Bereitwilligkeit und Widerstreben, wenn er von Kurtz sprechen sollte, war lustig zu sehen. Der Mann erfüllte sein Leben, beschäftigte seine Gedanken, beherrschte seine Gefühle. ›Was wollen Sie;‹ brach er los. ›Er kam zu ihnen mit Donner und Blitz – sie hatten nie etwas Ähnliches gesehen – und so schrecklich! Er konnte wirklich schrecklich sein. Man kann Herrn Kurtz nicht beurteilen wie einen gewöhnlichen Menschen. Nein, nein! Da – nur um Ihnen einen Begriff zu geben – es macht mir nichts aus, Ihnen zu erzählen, daß er auch mich eines Tages erschießen wollte. Aber ich verurteile ihn nicht.‹ – ›Was, erschießen!‹ rief ich, ›weshalb?‹ – ›Nun, ich besaß einen kleinen Posten Elfenbein, den mir der Häuptling des Dorfes nächst meinem Hause gegeben hatte. Ich pflegte für ihn Wild zu schießen, wissen Sie. Nun, Kurtz wollte es haben und ließ keine Widerrede gelten. Er erklärte mir, er würde mich erschießen, wenn ich ihm nicht das Elfenbein gäbe und mich dann aus dem Lande davonmachte, denn das könnte er tun und es machte ihm Spaß, und nichts auf Erden könnte ihn hindern, jeden nach seinem Belieben zu töten. Und das stimmte auch. Ich gab ihm das Elfenbein. Was lag mir daran! Aber ich verließ das Land nicht. Nein, nein. Ich konnte ihn nicht verlassen. Natürlich mußte ich vorsichtig sein, bis wir wieder eine Zeitlang freundschaftlich miteinander standen. Damals erkrankte er zum zweiten Male. Nachher mußte ich mich wieder aus dem Wege halten; aber es machte mir nichts aus. Er lebte die meiste Zeit in den Dörfern am See. Wenn er an den Strom herunterkam, dann kam er manchmal wieder zu mir, und manchmal war es für mich ratsamer, vorsichtig zu sein. Der Mann litt zu sehr. Er haßte dies alles hier und konnte sich doch nicht davon losreißen. Als sich mir einmal die Gelegenheit bot, bat ich ihn, doch den Versuch zum Weggehen zu machen, solange es noch Zeit sei. Ich bot ihm an, mit ihm zurückzugehen. Und er sagte ja und blieb dann doch; ging nochmals auf die Elfenbeinjagd, verschwand für Wochen, vergaß sich ganz unter diesen Leuten – vergaß sich – Sie verstehen.‹ – ›Nun, er ist verrückt‹, sagte ich. Er widersprach entrüstet. Herr Kurtz konnte nicht verrückt sein. Wenn ich ihn reden gehört hätte, erst vor zwei Tagen, dann würde ich eine solche Andeutung gar nicht wagen ... Ich hatte mein Fernglas aufgenommen, während wir sprachen, sah nach dem Ufer und suchte die Waldgrenze zu beiden Seiten und hinter dem Hause ab. Es war mir ein unbehagliches Gefühl, zu wissen, daß Leute in dem Busch steckten, so schweigend und reglos wie die Ruinen des Hauses auf dem Hügel. Nichts im Gesicht der Landschaft sprach von dieser fabelhaften Geschichte, die mir ja nicht so sehr erzählt, als vielmehr in Ausrufen der Verzweiflung und abgerissenen Sätzen mitgeteilt wurde, dann und wann von einem Achselzucken oder einer Gebärde unterbrochen, die in einem tiefen Seufzer endete. Die Wälder standen unbewegt wie eine Maske, wuchtig wie das geschlossene Tor eines Gefängnisses, sahen mir entgegen mit dem Ausdruck verborgenen Wissens, geduldiger Erwartung, unverbrüchlichen Schweigens. Der Russe erzählte mir gerade, Herr Kurtz sei erst ganz kürzlich zum Strom heruntergekommen und habe alle die Krieger des Stammes am See mitgebracht. Er war mehrere Monate weg gewesen – um sich anbeten zu lassen, nehme ich an – und war unerwartet heruntergekommen, offenbar in der Absicht, einen Plünderzug entweder nach der anderen Seite des Stromes, oder stromabwärts zu unternehmen. Offenbar hatte der Hunger nach noch mehr Elfenbein sich stärker erwiesen als die – wie soll ich sagen – weniger materiellen Wünsche. Jedenfalls aber hatte sich sein Befinden sehr verschlechtert. ›Ich hörte, daß er hilflos im Bett liege, und nützte die Gelegenheit aus, hinaufzukommen‹, sagte der Russe. ›Oh, es geht ihm schlecht, sehr schlecht!‹ Ich richtete mein Glas auf das Haus. Auch dort waren keine Lebenszeichen zu sehen, aber das zerstörte Dach war da und die lange Lehmmauer, die über das Gras emporragte, mit drei kleinen Fensteröffnungen darin, von denen nicht zwei von der gleichen Größe waren; all das war mir zum Greifen nahegerückt. Und dann machte ich eine hastige Bewegung, und einer der übriggebliebenen Pfosten des verschwundenen Zaunes sprang in das Sehfeld meines Glases. Ihr erinnert euch ja, daß ich euch sagte, wie mich aus der Ferne gewisse Ansätze zu Verzierungen überrascht hatten, die, angesichts der sonstigen Verkommenheit des Ortes, auffallend genug wirkten. Nun konnte ich es plötzlich aus größter Nähe sehen, und die erste Folge war, daß ich wie unter einem Schlag den Kopf zurückwarf. Dann ging ich sorgfältig mit meinem Glas einen Pfosten nach dem anderen ab und sah meinen Irrtum ein. Diese runden Kugeln waren nicht Verzierungen, sondern Wahrzeichen. Sie waren ausdrucksvoll und überwältigend, erschreckend und ergreifend – Nahrung für allerlei Gedanken und auch für die Geier, wenn irgendwelche vom Himmel heruntergesehen hätten; jedenfalls aber für alle Ameisen, die sich die Mühe nehmen wollten, den Pfosten hinaufzuklettern. Sie wären sogar noch eindrucksvoller gewesen, diese Köpfe auf den Pfählen, hätten sie die Gesichter nicht dem Haus zugekehrt. Nur einer, der erste, den ich erkannt hatte, sah zu mir her. Ich war nicht so entsetzt wie ihr wohl denken werdet. Mein Zurückzucken war weiter nichts als eine Regung der Überraschung gewesen. Ich hatte erwartet, eine geschnitzte Holzkugel dort oben zu finden. Nun wandte ich mich überlegt dem ersten der Köpfe wieder zu – und da war er also, schwarz, vertrocknet, eingesunken, mit geschlossenen Augenlidern – ein Kopf, der auf der Spitze des Zaunpfahles zu schlafen und da die verschrumpften Lippen die weißen Zähne entblößten, auch zu lächeln schien, ein unaufhörliches Lächeln über einen endlos heiteren Traum, der den ewigen Schlummer durchzog.

Ich verrate keine Geschäftsgeheimnisse. Tatsächlich sagte der Direktor später, daß die Methoden des Herrn Kurtz den Distrikt ruiniert hätten. Sie bewiesen nur, daß es Herr Kurtz an Hemmungen bei der Befriedigung seiner verschiedenen Lüste fehlen ließ, daß ihm kurz und gut etwas abging, irgendeine Kleinigkeit, die im äußersten Notfall unter seinem wundervollen Redefluß nicht zu finden war. Ob er selbst sich des Mangels bewußt war, kann ich nicht sagen. Ich denke, das Bewußtsein kam ihm ganz zum Schluß – im letzten Augenblick. Die Wildnis aber hatte den Mangel schnell gemerkt und hatte an ihm für den verrückten Einbruch eine furchtbare Rache genommen. Ich denke mir, sie hat ihm Dinge über ihn selbst zugeflüstert, die er nicht wußte, Dinge, von denen er keinen Begriff hatte, bis er mit der großen Einsamkeit zu Rate gegangen war – und dieses Flüstern hatte sich als unwiderstehlich und bezaubernd erwiesen. Es fand lauten Widerhall in ihm, weil er innerlich hohl war ... Ich setzte das Glas ab, und der Kopf, der nahe genug zu sein schien, daß ich hätte mit ihm reden können, schien im Augenblick in unerreichbare Fernen zurückzuschnellen.

Der Bewunderer des Herrn Kurtz schien ein wenig bestürzt. Mit hastiger, deutlicher Stimme begann er mir zu versichern, er habe es nicht gewagt, diese Symbole herunterzunehmen. Die Eingeborenen fürchtete er nicht. Die Häuptlinge kamen jeden Tag, um Herrn Kurtz zu sehen. Sie krochen vor ihm ... ›Ich will nichts von dem Zeremoniell wissen, das für das Erscheinen vor Herrn Kurtz vorgeschrieben ist‹, brüllte ich. Merkwürdig genug überkam mich das Gefühl, daß solche Einzelheiten unerträglicher sein mußten, als der Anblick der Köpfe, die dort auf den Zaunpfosten unter Herrn Kurtz' Fenster dörrten. Denn schließlich war dieser Anblick nur wild, während mich die kurze Andeutung mit einem Schlag in den lichtlosen Bereich letzter Schrecken versetzt zu haben schien, wo reine, unverworrene Wildheit eine wahre Erlösung bedeutete; denn sie war ja etwas, was ganz offenbar ein Recht darauf hatte, im Sonnenschein zu bestehen. Der junge Mann sah mich überrascht an. Ich nehme an, es kam ihm nicht zum Bewußtsein, daß mir jede Verehrung für Herrn Kurtz fernlag. Er vergaß, daß ich keines der wundervollen Selbstgespräche angehört hatte, über – was war es doch –, über Liebe, Gerechtigkeit, Lebensführung und was sonst noch alles. Wenn es darauf ankam, vor Herrn Kurtz auf dem Bauch zu kriechen, dann tat er das besser als der wildeste Wilde. Ich hätte keinen Begriff von den Lebensverhältnissen, sagte er: diese Köpfe seien die Köpfe von Rebellen. Ich empörte ihn aufs äußerste, indem ich lachte. Rebellen! Was würde ich wohl noch als nächste Erklärung zu hören bekommen? Es hatte Feinde gegeben, Verbrecher, Arbeiter – und diese waren Rebellen. Diese rebellischen Köpfe sahen mir auf ihren Pfählen recht unterwürfig aus. ›Sie wissen nicht, wie ein solches Leben einen Mann wie Kurtz angreift‹, rief Kurtz' letzter Schüler. ›Nun, und Sie?‹ sagte ich. – ›Ich bin ein einfacher Mann. Ich habe keine großen Gedanken. Ich verlange nichts von irgend jemand. Wie können Sie mich vergleichen ...?‹ Seine Gefühle waren zu stark für Worte, und plötzlich klappte er zusammen. ›Ich verstehe es nicht‹, stöhnte er. ›Ich habe mein Bestes getan, um ihn am Leben zu erhalten, und das genügt. Ich hatte kein Geschick dafür, ich habe keine besonderen Fähigkeiten. Seit Monaten gibt es hier keinen Tropfen Medizin und keinen Bissen Krankenkost mehr. Man hat ihn schamlos im Stich gelassen. Einen solchen Mann, mit solchen Gedanken. Schamlos! Schamlos! Ich – ich habe die letzten zehn Nächte nicht geschlafen...‹

Seine Stimme verlor sich in dem stillen Abend. Während wir sprachen, waren die langen Schatten des Waldes über den Himmel herabgeglitten, hatten sich weit über die verfallene Wohnstätte und über die Reihe der Zaunpfähle mit ihren Wahrzeichen erstreckt. Alles das lag im Düstern, während wir unten am Strom noch Sonne hatten und die Stromstrecke von der Lichtung abwärts sich grell glitzernd gegen die Schattenmassen oben und unten abhob. Keine lebende Seele war am Ufer zu sehen. Die Büsche regten sich nicht.

Plötzlich tauchte um die Ecke des Hauses herum eine Gruppe von Leuten auf, als wären sie aus der Erde emporgewachsen. Sie wateten bis zur Hüfte durch das Gras, in einem gedrängten Haufen, und trugen eine notdürftig zurechtgezimmerte Bahre in ihrer Mitte. Augenblicklich gellte ein Schrei durch die leere Landschaft, dessen Schrille die Luft zerriß wie ein scharfer Pfeil, der mitten ins Herz der Landschaft flog; und wie durch Zauberschlag ergossen sich Ströme menschlicher Wesen – nackter menschlicher Wesen – mit Speeren in den Händen, mit Bogen, Schilden, mit wilden Blicken und heftigen Bewegungen aus dem dunkelblickenden, nachdenklichen Wald in die Lichtung. Die Büsche rauschten, das Gras wallte eine Zeitlang, und dann stand alles achtsam und unbeweglich still. ›Nun, wenn er ihnen jetzt nicht das rechte Wort sagt, dann ist es um uns alle geschehen‹, sagte der Russe an meinem Ellbogen. Die paar Leute mit der Tragbahre waren auch wie versteinert auf dem halben Wege zum Dampfer stehengeblieben. Ich sah, wie der Mann auf der Bahre sich mühsam aufsetzte und über die Schultern der Träger den Arm emporstreckte. ›Hoffen wir, daß der Mann, der so gut über Liebe im allgemeinen zu reden versteht, einen besonderen Beweisgrund finden wird, um uns diesmal zu retten‹, sagte ich. Ich litt schwer unter der unsinnigen Gefahr unserer Lage, als wäre es eine entehrende Notwendigkeit gewesen, von der Gnade dieses grausamen Gespenstes abhängig zu sein. Ich konnte keinen Ton hören, sah aber durch mein Glas den dünnen Arm befehlend ausgestreckt, sah den Unterkiefer, der sich bewegte und die Augen des Gespenstes, die tief aus dem knochigen, ruckweise nickenden Kopf leuchteten. Kurtz – Kurtz – das ist im Deutschen ein Name, wie auch ein Eigenschaftswort, nicht wahr? Nun also, der Name war so wahr, wie alles sonst in seinem Leben – und seinem Sterben. Der Mann schien mindestens sieben Fuß lang zu sein. Seine Decke war abgeglitten, und der Körper bot sich erbarmungswürdig dar, wie aus einem Leichentuch herausgeschält. Ich konnte sehen, wie heftig seine Rippen zitterten, seine Armknochen bebten. Es sah aus, als schüttelte ein beseeltes Bildnis des Todes, aus altem Elfenbein, gespenstisch drohend die Hand gegen eine reglose Menge von Menschen, die aus dunkler, glänzender Bronze gegossen waren. Ich sah ihn weit den Mund öffnen – es gab ihm einen unheimlichen, gefräßigen Ausdruck, als hätte er die ganze Luft, die ganze Erde, alle die Männer vor ihm verschlingen wollen. Eine tiefe Stimme klang schwach bis zu mir. Offenbar brüllte er. Plötzlich fiel er zurück. Die Bahre schwankte, während die Träger wieder vorwärtsschritten, und fast zur gleichen Zeit bemerkte ich, daß die Schar der Wilden fast ohne sichtbare Rückzugsbewegung verschwand, als hätte der Urwald, der diese Wesen so plötzlich ausgeworfen hatte, sie auch wieder eingesogen, so wie man die Luft in einem tiefen Zuge einatmet.

Einige der Pilger hinter der Bahre trugen seine Waffen – zwei Schrotflinten, eine schwere Büchse und einen leichten Repetierkarabiner – die Donnerkeile dieses kläglichen Zeus. Der Direktor beugte sich über ihn und murmelte etwas, während er neben dem Kopfende der Bahre weiterging. Sie legten ihn in einer der kleinen Kabinen nieder – es war gerade Platz genug für eine Bettstelle und einen Feldstuhl oder zwei. Wir hatten all seine verspätete Post mitgebracht, und sein Bett war mit einer Unmenge aufgerissener Umschläge und offener Briefe übersät. Seine Hand wühlte kraftlos unter diesen Papieren. Ich war betroffen von dem Feuer seiner Augen und der Fassung in seinen Zügen. Es war nicht so sehr Erschöpfung infolge seiner Krankheit. Er schien keine Schmerzen zu haben. Dieser Schatten blickte gesättigt und ruhig drein, als hätte er sich, für den Augenblick, an allen Gemütsbewegungen genuggetan.

Er raschelte mit einem der Briefe, sah mir gerade ins Gesicht und sagte: ›Sehr erfreut!‹ Irgend jemand hatte ihm meinetwegen geschrieben. So fing es also wieder mit den besonderen Empfehlungen an. Die Tonstärke, die er ohne Anstrengung, fast ohne die Lippen zu bewegen, hervorbrachte, verblüffte mich. Eine Stimme! Eine Stimme! Ernst, tief, bebend, während der Mann selbst kaum fähig schien, zu flüstern. Doch hatte er immer noch genügend Kraft (wenn auch nur noch künstlich erzwungene) in sich, um uns allen den Garaus zu machen, wie ihr sofort hören sollt.

Der Direktor tauchte schweigend in der Kabinentür auf. Ich ging sofort hinaus und zog hinter mir den Vorhang zu. Der Russe, von den Pilgern neugierig gemustert, starrte nach dem Ufer hinüber. Ich folgte der Richtung seines Blickes.

Dunkle menschliche Gestalten waren in der Ferne zu erkennen, die deutlich vor dem dunklen Hintergrund des Waldes hinflitzten; nahe am Ufer standen zwei bronzene Gestalten auf hohe Speere gelehnt, kriegerisch und still, in bildhafter Ruhe, im Sonnenschein, unter ihrem phantastischen Kopfschmuck aus gefleckten Fellen. Und von rechts nach links, dem erleuchteten Ufer entlang, bewegte sich die wilde, prunkvolle Erscheinung einer Frau.

Sie war in gestreifte, mit Fransen besetzte Stoffe gehüllt, ging mit gemessenen Schritten dahin und setzte die Füße stolz auf den Boden, von einem leichten Klirren und Aufblitzen barbarischer Schmuckstücke begleitet. Sie hielt den Kopf hoch; ihr Haar war helmartig aufgesteckt. Sie trug messingene Fußringe bis zum Knie, messingene Armspangen bis zum Ellbogen hinauf, einen brennroten Fleck auf jeder ihrer lohfarbenen Wangen, zahllose Glasperlenschnüre um den Hals; fremdartige Dinge, Amulette und Geschenke von Zauberern, die sie an sich hängen hatte, zitterten und glitzerten bei jedem Schritt. Sie schien den Wert mehrerer Elefantenzähne an sich zu tragen. Sie war wild und stolz, prunkvoll, mit lohenden Blicken; etwas Schicksalhaftes, Feierliches lag in ihren langsamen Schritten, und in dem Schweigen, das sich plötzlich über das ganze Land hingesenkt hatte, schien die ungeheure Wildnis, der Riesenleib des fruchtbaren, geheimnisvollen Lebens nachdenklich nach ihr zu schauen, wie nach dem Abbild der eigenen leidenschaftlichen und düsteren Seele.

Sie kam bis hart vor den Dampfer, stand still und sah uns an. Ihr langer Schatten fiel bis über das Wasser hinaus. Ihr Gesicht zeigte den tragischen, ungestümen Ausdruck wilden Kummers und dumpfen Schmerzes, sowie das Ringen mit einem noch unfertigen Entschluß. Sie stand und sah uns reglos an, wie die Wildnis selbst, als brütete sie über undurchdringlichen Plänen. Eine volle Minute verging, dann machte sie einen Schritt vorwärts. Es gab ein leises Klingeln, ein Aufglänzen gelben Metalls, ein Rauschen gefranster Stoffe, dann blieb sie kurz stehen, als hätte ihr Mut sie verlassen. Der junge Mensch an meiner Seite knurrte. Hinter mir murmelten die Pilger. Sie sah uns alle an, als hinge ihr Leben von der Unverrückbarkeit ihres Blickes ab. Plötzlich öffnete sie ihre nackten Arme und warf sie grade über ihrem Kopf hoch, wie in dem unsinnigen Verlangen, den Himmel greifen zu können, und zugleich schossen auch die schnellen Schatten über die Erde, hüllten ringsum den Strom ein und zogen den Dampfer in ihre Umarmung. Ein ungeheures Schweigen hing über dem Ganzen.

Sie wandte sich langsam ab, schritt weiter dem Ufer entlang und verlor sich in den Büschen zur Linken. Einmal nur glänzten aus dem Dickicht ihre Augen zu uns zurück, bevor sie endgültig verschwand. ›Hätte sie ernstlich Anstalten gemacht, an Bord zu kommen, so hätte ich wirklich versucht, sie zu erschießen‹, sagte der Flickenmann etwas aufgeregt. ›Ich mußte während der letzten zwei Wochen tagtäglich mein Leben wagen, um sie aus dem Haus heraus zu halten. Eines Tages kam sie doch hinein und schlug einen Riesenkrach, wegen der elenden Fetzen, die ich im Vorratsraum aufgeklaubt hatte, um meine Kleider damit auszubessern. Ich sah ja nicht mehr menschenmöglich aus. Es muß sich darum gedreht haben, denn sie redete eine Stunde lang wie eine Furie auf Kurtz ein und wies dann und wann auf mich. Ich verstehe den Dialekt dieses Stammes nicht. Zu meinem Glück war wohl Kurtz an diesem Tage zu krank, als daß er sich darüber aufgeregt hätte, sonst hätte es sicher Unannehmlichkeiten gegeben. Ich verstehe nicht ... Nein, es ist zu viel für mich. Aber, nun – jetzt ist ja alles vorbei!‹

In diesem Augenblick hörte ich Kurtz' Stimme hinter dem Vorhang: ›Mich retten! – Das Elfenbein retten, meinen Sie. Erzählen Sie mir nichts. Mich retten! Was denn – ich habe Sie gerettet! Sie stören jetzt meine Pläne. Krank! Krank! Nicht so krank, wie Sie wohl gern glauben möchten. Sorgen Sie sich nicht. Ich werde meine Pläne schon noch ausführen – ich komme zurück. Ich will Ihnen zeigen, was getan werden kann. Sie, mit Ihrem kümmerlichen bißchen Wissen – Sie wollen mir in den Arm fallen; Ich komme zurück, ich ...‹

Der Direktor kam heraus. Er erwies mir die Ehre, mich unter den Arm zu fassen und beiseite zu führen. ›Er ist ganz herunter, ganz herunter‹, sagte er. Er hielt es für angebracht zu seufzen, unterließ es aber, auch im Gesicht den entsprechenden Schmerz zu zeigen. ›Wir haben alles, was wir konnten, für ihn getan – oder nicht? Aber die Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen, daß Herr Kurtz der Gesellschaft mehr geschadet als genützt hat. Er hat nicht eingesehen, daß die Zeit für scharfes Vorgehen noch nicht gekommen war. Wir müssen noch vorsichtig sein. Der Distrikt ist uns nun für einige Zeit verschlossen. Bedauerlich! Alles in allem genommen wird der Handel leiden. Ich bestreite nicht, daß eine bedeutende Menge Elfenbein da ist – meistens fossil. Wir müssen es unter allen Umständen retten –, aber sehen Sie selbst, wie peinlich die Lage ist – und warum? Weil die Methode ungesund ist.‹ – ›Nennen Sie das‹, sagte ich mit einem Blick nach dem Ufer, ›ungesunde Methode?‹ – ›Ohne Zweifel‹, rief er hitzig aus. ›Sie etwa nicht?‹ – ›Mir scheint es überhaupt keine Methode‹, murmelte ich nach einer Weile. ›Sehr richtig‹, jubelte er. ›Das habe ich vorausgesehen. Zeugt von völligem Mangel an Urteilsgabe. Es ist meine Pflicht, es höheren Orts zur Kenntnis zu bringen.‹ – ›Oh‹, sagte ich, ›der Bursche – wie heißt er noch? – der Ziegelmacher, wird Ihnen schon einen lesbaren Bericht verfassen.‹ Er schien einen Augenblick lang verblüfft. Mir war es, als hätte ich nie zuvor eine so verpestete Luft geatmet, und ich wandte mich im Geiste an Kurtz um Hilfe – tatsächlich um Hilfe. ›Trotz allem bin ich der Meinung, daß Herr Kurtz ein hervorragender Mensch ist‹, sagte ich mit Nachdruck. Der Direktor fuhr auf, ließ einen kalten und schweren Blick auf mich fallen, sagte sehr ruhig: ›Das war er‹, und wandte mir den Rücken. Die Stunde meiner Bevorzugung war vorüber; ich fand mich, zusammen mit Kurtz, beiseite geworfen, als einen Anhänger von Methoden, für die die Zeit nicht reif war; ich war ungesund! Ah! Aber es war doch schon etwas, die Wahl zwischen zwei unangenehmen Zeitgenossen zu haben.

Tatsächlich hatte ich mich an die Wildnis gehalten, nicht an Herrn Kurtz, der, wie ich bereit war zuzugeben, schon so gut wie begraben war. Und einen Augenblick schien es mir, als wäre auch ich schon in einem Massengrab voll unaussprechlicher Geheimnisse eingeschlossen. Ich fühlte ein ungeheures Gewicht mir die Brust bedrücken, witterte den Geruch der feuchten Erde, die unsichtbare Gegenwart siegreicher Verderbnis, die Dunkelheit undurchdringlicher Nacht ... Der Russe klopfte mir auf die Schulter. Ich hörte ihn etwas murmeln und stammeln von ›Bruder Seemann – konnte nicht verschweigen – mein Wissen um Dinge, die Herrn Kurtz' gutem Ruf schaden konnten.‹ Ich wartete. Für ihn war Herr Kurtz augenscheinlich noch nicht begraben; ich habe ihn sogar im Verdacht, daß für ihn Herr Kurtz zu den Unsterblichen gehörte. ›Nun‹, sagte ich schließlich, ›sprechen Sie sich aus. Zufällig bin ich Herrn Kurtz' Freund – sozusagen!‹

Er stellte mit ziemlicher Förmlichkeit fest, daß er, wären wir nicht ›Berufsgenossen‹ gewesen, die Sache ohne Rücksicht auf die Folgen für sich behalten hätte. Er hatte den Verdacht, daß die Weißen da ausgesprochen böse Absichten gegen ihn hegten, die ... – ›Sie haben recht‹, sagte ich, in der Erinnerung an ein gewisses Gespräch, das ich belauscht hatte. ›Der Direktor meinte, sie müßten gehängt werden.‹ Diese Mitteilung ging ihm in einer Weise nahe, die mich zunächst belustigte. ›Ich sollte lieber still aus dem Wege gehen‹, sagte er sehr ernst. ›Für Kurtz kann ich nun nichts mehr tun, und sie würden rasch einen Vorwand finden. Was sollte sie abhalten? Dreihundert Meilen von hier ist ein Militärposten.‹ – ›Nun, auf mein Wort‹, sagte ich, ›vielleicht sollten Sie wirklich lieber gehen, wenn Sie unter den Wilden hier in der Nähe auch nur einen Freund haben.‹ – ›Eine Menge‹, sagte er. ›Sie sind einfältige Leute – und ich brauche ja nichts, wissen Sie.‹ Er stand und biß sich auf die Lippen, dann meinte er: ›Ich möchte nicht, daß den Weißen hier irgend etwas zustößt – doch Sie sind ja ein Bruder, ein Seemann, und ich dachte natürlich an Herrn Kurtz' guten Ruf ...‹ – ›Schon recht‹, sagte ich nach einer Pause. ›Herrn Kurtz' Ruf ist bei mir gut aufgehoben.‹ Ich wußte nicht, wie wahr ich sprach.

Er dämpfte die Stimme und teilte mir mit, daß es Herr Kurtz gewesen sei, der den Angriff auf den Dampfer befohlen hatte. ›Er haßte mitunter den Gedanken, weggeholt zu werden, und dann wieder ... aber ich verstehe diese Dinge nicht. Ich bin ein einfacher Mensch. Er glaubte, es würde Sie abschrecken – daß Sie es aufgeben würden, weil Sie ihn für tot hielten. Ich konnte ihn nicht hindern. Oh, ich habe den letzten Monat Furchtbares durchgemacht.‹ – ›Schon recht‹, sagte ich. ›Er ist ja nun gut aufgehoben.‹ – ›Ja-a-a-‹, murmelte er, augenscheinlich nicht so sehr überzeugt. ›Danke‹, sagte ich, ›ich will die Augen offen halten!‹ – ›Aber unauffällig, ja‹, drang er ängstlich in mich. ›Es wäre schrecklich für seinen Ruf, wenn irgend jemand hier ...‹ Ich versprach mit größtem Ernst unbedingte Verschwiegenheit. ›Ich habe ein Kanu und drei Schwarze, die nicht allzu weit weg auf mich warten. Ich gehe. Könnten Sie mir ein paar Martini-Henry-Patronen geben?‹ Ich konnte es und tat es mit der nötigen Heimlichkeit. Er bediente sich noch, mit einem Blinzeln zu mir, aus meiner Tabakdose. ›Unter Seeleuten – Sie wissen ja – guter englischer Tabak.‹ An der Tür des Ruderhauses wandte er sich um: ›Sagen Sie, hätten Sie nicht ein Paar Schuhe, das Sie entbehren könnten?‹ Er hob ein Bein. ›Sehen Sie doch selbst.‹ Die Sohlen waren mit oft geflickten Schnüren sandalenartig unter seine nackten Füße gebunden. Ich suchte ein altes Paar heraus, das er mit Bewunderung betrachtete, bevor er es sich unter den linken Arm klemmte. Eine seiner Taschen (knallrot) war krachvoll mit Patronen, aus der anderen (dunkelblau) sah ›Towsons Untersuchung und so weiter‹ heraus. Er schien sich für einen erneuten Kampf mit der Wildnis fabelhaft ausgestattet zu haben. ›Oh, nie, nie wieder werde ich einem solchen Mann begegnen. Sie hätten ihn Gedichte sprechen hören sollen – es waren sogar seine eigenen, wie er mir sagte. Gedichte! ‹ Er rollte die Augen bei der Erinnerung an diese Genüsse. ›Oh, er hat mir viel beigebracht.‹ – ›Leben Sie wohl‹, sagte ich. Er schüttelte mir die Hand und verschwand in die Nacht. Manchmal frage ich mich, ob ich ihn wohl wirklich gesehen habe – ob es möglich war, einem solchen Rätselwesen zu begegnen ...

Als ich kurz nach Mitternacht erwachte, kam mir seine Warnung und die Andeutung von Gefahren in den Sinn, die tief in der bestirnten Dunkelheit berechtigt genug schienen, um mich zum Aufstehen und zu einem kleinen Rundgang zu bestimmen. Auf dem Hügel brannte ein großes Feuer und beleuchtete in Abständen eine der schiefen Ecken des Stationsgebäudes. Einer der Agenten bewachte mit einer kleinen Abteilung unserer Schwarzen, die zu dem Zweck bewaffnet worden waren, den Elfenbeinvorrat. Tief drinnen aber, im Urwald, zeigten rote Feuerkreise, die flackerten und zwischen verschwommenen, tiefschwarzen Säulen aus dem Boden aufzutauchen und wieder zu versinken schienen, die Stelle des Lagers an, wo Herrn Kurtz' Anbeter ihre Trauerwache hielten. Das eintönige Dröhnen einer großen Trommel erfüllte die Luft mit dumpfen Erschütterungen und nachhaltigen Schwingungen. Hinter der schwarzen Mauer des Waldes hervor kam, wie das Summen von Bienen aus dem Stocke klingt, der träge Klang vieler Männerstimmen, die, jede für sich, irgendeine Beschwörung sangen. Es wirkte merkwürdig einschläfernd auf meinen halbwachen Sinn. Ich glaube, ich schlief ein, während ich an der Reling lehnte, bis ein plötzlicher Aufschrei, ein überwältigender Ausbruch hochgepeitschter, geheimnisvoller Raserei, mich bestürzt auffahren ließ. Der Aufschrei brach sofort ab, und die leise, träge Beschwörung mit ihrer besänftigenden und einschläfernden Wirkung ging wieder weiter. Ich sah von ungefähr in die kleine Kabine. Ein Licht brannte darin, doch Herr Kurtz war nicht da.

Ich glaube, ich hätte aufgeschrien, wenn ich meinen Augen geglaubt hätte. Doch ich glaubte ihnen zunächst nicht, so unmöglich schien die Tatsache. In Wahrheit war es wohl so, daß ich aus bloßer Angst, aus nacktem Schrecken, die mit der Gewißheit persönlicher Gefährdung nichts zu tun hatten, völlig von Sinnen war. Was das Gefühl so überwältigend machte, war – wie soll ich es erklären – der innerliche Stoß, den ich bekam, als wäre etwas Ungeheuerliches, dem Verstande wie der Seele gleich Unerträgliches, plötzlich über mich hereingebrochen. Das hielt natürlich nur den Bruchteil einer Sekunde an, und gleich darauf hatte der gesunde Menschenverstand wieder die Oberhand, dem die Lebensgefahr, die Möglichkeit eines plötzlichen Überfalls, eines Gemetzels oder etwas dieser Art, das ich voraussah, geradezu willkommen und tröstlich erschien. Er beruhigte mich tatsächlich so sehr, daß ich nicht einmal Lärm schlug.

Zwei Schritte vor mir schlief ein Agent, in einen Mantel geknöpft, in einem Deckstuhl. Das Geschrei hatte ihn nicht aufgeweckt; er schnarchte leise; ich überließ ihn seinem Schlummer und sprang an Land. Ich verriet Herrn Kurtz nicht – es war vorherbestimmt, daß ich ihn nie verraten – es stand geschrieben, daß ich dem Ungeheuer meiner Wahl treu bleiben sollte. Ich brannte darauf, mich, ganz für mich allein, mit diesem Schatten auseinanderzusetzen – und bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht, warum ich es so eifersüchtig ablehnte, mit irgend jemand das eigenartig dunkle Erlebnis jener Stunde zu teilen.

Sobald ich auf dem Ufer stand, sah ich eine Fährte – eine breite Fährte durch das Gras. Ich erinnere mich noch, mit welchem Jubel ich mir sagte, ›er kann nicht gehen, er kriecht auf allen vieren, er gehört schon mir!‹ Das Gras triefte von Tau. Ich ging schnell mit geballten Fäusten dahin. Ich glaube, ich hatte die dunkle Absicht, über ihn herzufallen und ihn durchzuprügeln. Ich weiß es nicht. Ich hatte einige blödsinnige Vorstellungen. Das strickende alte Weib mit der Katze fiel mir ein, und ich empfand plötzlich, wie ungehörig es war, daß sie am anderen Ende einer solchen Geschichte sitzen sollte. Ich sah eine Horde von Pilgern aus Winchester-Karabinern, die sie an der Hüfte angeschlagen hielten, Blei in die Luft spritzen. Ich stellte mir vor, daß ich nie wieder zum Dampfer zurückkommen und allein und unbewaffnet in den Wäldern bis zum hohen Alter leben würde. Lauter solche Dummheiten, wißt ihr. Ich erinnere mich auch, daß ich die Trommelwirbel mit meinem Herzschlag verwechselte und über sein ruhiges Gleichmaß erfreut war.

Ich hielt die Fährte eine Weile und blieb dann stehen, um zu lauschen. Die Nacht war sehr klar: ein dunkelblauer Raum, glitzernd von Tau und Sternenlicht, in dem schwarze Dinge ganz ruhig standen. Ich glaubte, gerade vor mir eine kleine Bewegung wahrnehmen zu können. Ich war in jener Nacht aller Dinge merkwürdig sicher. Nun verließ ich die Fährte und rannte in einem weiten Halbkreis (vor mich hin kichernd, glaube ich sogar) voran, um der Bewegung, die ich wahrgenommen hatte, wenn ich wirklich irgend etwas gesehen hatte, den Weg abzuschneiden. Ich schlug einen Kreis um Kurtz, als spielten wir ein Knabenspiel.

Ich kam an ihn, und wenn er mich nicht kommen gehört hätte, so wäre ich wohl auch über ihn gestürzt; aber er stand noch zur rechten Zeit auf. Er erhob sich, unsicher, lang, blaß, undeutlich, wie ein von der Erde ausgeatmeter Dunst, und schwankte leicht nebelig, stumm, vor meinen Augen; unterdessen glühten in meinem Rücken die Feuer zwischen den Bäumen, und das Murmeln vieler Stimmen drang aus dem Wald. Ich hatte ihm richtig den Weg verlegt; als ich ihm aber nun so gegenüberstand, schien ich wieder zur Besinnung zu kommen und übersah die Gefahr in ihrer ganzen Tragweite. Sie war durchaus noch nicht beseitigt. Angenommen, er begann zu brüllen? Wenn er auch kaum stehen konnte, so war doch noch Kraft genug in seiner Stimme. ›Gehen Sie weg – verstecken Sie sich‹, sagte er in seinem tiefen Ton. Es war ganz schrecklich. Ich sah zurück. Wir waren ungefähr dreißig Meter vom nächsten Feuer weg. Eine schwarze Gestalt erhob sich, schritt auf langen, schwarzen Beinen dahin durch den Feuerschein und schwenkte lange, schwarze Arme. Sie hatte Hörner – Antilopenhörner, glaube ich – auf dem Kopf. Irgendein Zauberer, ein Medizinmann, ohne Frage; er sah teuflisch genug aus. ›Wissen Sie auch, was Sie tun?‹ flüsterte ich. – ›Vollkommen‹, gab er zurück und hob die Stimme für dieses einzelne Wort. Sie klang mir wie von fern her, doch laut, wie ein Anruf durch ein Sprachrohr. Wenn er Lärm schlägt, sind wir verloren, dachte ich. Dies war augenscheinlich kein Fall, der durch einen Faustschlag zu erledigen war, ganz abgesehen von der sehr natürlichen Abneigung, die ich dagegen hatte, diesen Schatten, dieses irrende, gequälte Ding zu schlagen. ›Sie werden verloren sein‹, sagte ich. ›Ganz und gar verloren.‹ Man hat manchmal so blitzartige Eingebungen. Ich sagte gerade das rechte Wort, obwohl er ja tatsächlich nicht schlimmer verloren sein konnte, als er es gerade in jenem Augenblick war; damals, als der Grundstein für unsere Vertrautheit gelegt wurde, die dann lange – lange – bis zum Ende – und noch darüber hinaus anhalten sollte.


 
 
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