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Kapitel 7 - 9



Siebtes Kapitel. Die tolle Theegesellschaft.


Vor dem Hause stand ein gedeckter Theetisch, an welchem der Faselhase und der Hutmacher saßen; ein Murmelthier saß zwischen ihnen, fest eingeschlafen, und die beiden Andern benutzen es als Kissen, um ihre Ellbogen darauf zu stützen, und redeten über seinem Kopfe mit einander. »Sehr unbequem für das Murmelthier,« dachte Alice; »nun, da es schläft, wird es sich wohl nichts daraus machen.«

Der Tisch war groß, aber die Drei saßen dicht zusammengedrängt an einer Ecke: »Kein Platz! Kein Platz!« riefen sie aus, sobald sie Alice kommen sahen. »Ueber und über genug Platz!« sagte Alice unwillig und setzt sich in einen großen Armstuhl am Ende des Tisches.

»Ist dir etwas Wein gefällig?« nöthigte sie der Faselhase.

Alice sah sich auf dem ganzen Tische um, aber es war nichts als Thee darauf. »Ich sehe keinen Wein,« bemerkte sie.

»Es ist keiner hier,« sagte der Faselhase.

»Dann war es gar nicht höflich von dir, mir welchen anzubieten,« sagte Alice ärgerlich.

»Es war gar nicht höflich von dir, dich ungebeten herzusetzen,« sagte der Faselhase.

»Ich wußte nicht, daß es dein Tisch ist; er ist für viel mehr als drei gedeckt.«

»Dein Haar muß verschnitten werden,« sagte der Hutmacher. Er hatte Alice eine Zeit lang mit großer Neugierde angesehen, und dies waren seine ersten Worte.

»Du solltest keine persönlichen Bemerkungen machen,« sagte Alice mit einer gewissen Strenge, »es ist sehr grob.«

Der Hutmacher riß die Augen weit auf, als er dies hörte; aber er sagte weiter nichts als: »Warum ist ein Rabe wie ein Reitersmann?«

»Ei, jetzt wird es Spaß geben,« dachte Alice. »Ich bin so froh, daß sie anfangen Räthsel aufzugeben – Ich glaube, das kann ich rathen,« fuhr sie laut fort.

»Meinst du, daß du die Antwort dazu finden kannst?« fragte der Faselhase.

»Ja, natürlich,« sagte Alice.

»Dann solltest du sagen, was du meinst,« sprach der Hase weiter.

»Das thue ich ja,« warf Alice schnell ein, »wenigstens – wenigstens meine ich, was ich sage – und das ist dasselbe.«

»Nicht im Geringsten dasselbe!« sagte der Hutmacher. »Wie, du könntest eben so gut behaupten, daß ich sehe, was ich esse« dasselbe ist wie »ich esse, was ich sehe.«

»Du könntest auch behaupten,« fügte der Faselhase hinzu, »ich mag, was ich kriege« sei dasselbe wie »ich kriege, was ich mag!«

»Du könntest eben so gut behaupten,« fiel das Murmelthier ein, das im Schlafe zu sprechen schien, »ich athme, wenn ich schlafe« sei dasselbe wie »ich schlafe, wen ich athme!«

»Es ist dasselbe bei dir,« sagte der Hutmacher, und damit endigte die Unterhaltung, und die Gesellschaft saß einige Minuten schweigend, während Alice Alles durchdachte, was sie je von Raben und Reitersmännern gehört hatte, und das war nicht viel.

Der Hutmacher brach das Schweigen zuerst. »Den wievielsten haben wir heute?« sagte er, sich an Alice wendend; er hatte seine Uhr aus der Tasche genommen, sah sie unruhig an, schüttelte sie hin und her und hielt sie an's Ohr.

Alice besann sich ein wenig und sagte: »Den vierten.«

»Zwei Tage falsch!« seufzte der Hutmacher. »Ich sagte dir ja, daß Butter das Werk verderben würde,« setze er hinzu, indem er den Hasen ärgerlich ansah.

»Es war die beste Butter,« sagte der Faselhase demüthig.

»Ja, aber es muß etwas Krume mit hinein gerathen sein,« brummte der Hutmacher; »du hättest sie nicht mit dem Brodmesser hinein thun sollen.«

Der Faselhase nahm die Uhr und betrachtete sie trübselig; dann tunkte er sie in seine Tasse Thee und betrachtete sie wieder, aber es fiel ihm nichts Besseres ein, als seine erste Bemerkung: »Es war wirklich die beste Butter.«

Alice hatte ihm neugierig über die Schulter gesehen.

»Was für eine komische Uhr!« sagte sie. »Sie zeigt das Datum, und nicht wie viel Uhr es ist!«

»Warum sollte sie?« brummte der Hase; »zeigt deine Uhr, welches Jahr es ist?«

»Natürlich nicht,« antwortete Alice schnell, »weil es so lange hintereinander dasselbe Jahr bleibt.«

»Und so ist es gerade mit meiner,« sagte der Hutmacher.

Alice war ganz verwirrt. Die Erklärung des Hutmachers schien ihr gar keinen Sinn zu haben, und doch waren es deutlich gesprochne Worte. »Ich verstehe dich nicht ganz,« sagte sie, so höflich sie konnte.

»Das Murmelthier schläft schon wieder,« sagte der Hutmacher, und goß ihm etwas heißen Thee auf die Nase.

Das Murmelthier schüttelte ungeduldig den Kopf und sagte, ohne die Augen aufzuthun: »Freilich, freilich, das wollte ich eben auch bemerken.«

»Hast du das Räthsel schon gerathen?« wandte sich der Hutmacher an Alice.

»Nein, ich gebe es auf,« antwortete Alice, »Was ist die Antwort?«

»Davon habe ich nicht die leiseste Ahnung,« sagte der Hutmacher.

»Ich auch nicht,« sagte der Faselhase.

Alice seufzte verstimmt. »Ich dächte, ihr könntet die Zeit besser anwenden,« sagte sie, »als mit Räthseln, die keine Auflösung haben.«

»Wenn du die Zeit so gut kenntest wie ich,« sagte der Hutmacher, »würdest du nicht davon reden, wie wir sie anwenden, sondern wie sie uns anwendet.«

»Ich weiß nicht, was du meinst,« sagte Alice.

»Natürlich kannst du das nicht wissen!« sagte der Hutmacher, indem er den Kopf verächtlich in die Höhe warf. »Du hast wahrscheinlich nie mit der Zeit gesprochen.«

»Ich glaube kaum,« erwiederte Alice vorsichtig; »aber Mama sagte gestern, ich sollte zu meiner kleinen Schwester gehen und ihr die Zeit vertreiben.«

»So? das wird sie dir schön übel genommen haben; sie läßt sich nicht gern vertreiben. Aber wenn man gut mit ihr steht, so thut sie Einem beinah Alles zu Gefallen mit der Uhr. Zum Beispiel, nimm den Fall, es wäre 9 Uhr Morgens, gerade Zeit, deine Stunden anzufangen, du brauchtest der Zeit nur den kleinsten Wink zu geben, schnurr! geht die Uhr herum, ehe du dich's versiehst! halb Zwei, Essenszeit!«

»Ich wünschte, das wäre es!« sagte der Faselhase leise für sich.

»Das wäre wirklich famos,« sagte Alice gedankenvoll, »aber dann würde ich nicht hungrig genug sein, nicht wahr?«

»Zuerst vielleicht nicht,« antwortete der Hutmacher, »aber es würde so lange halb Zwei bleiben, wie du wolltest.«

»So macht ihr es wohl hier?« fragte Alice.

Der Hutmacher schüttelte traurig den Kopf. »Ich nicht!« sprach er. »Wir haben uns vorige Ostern entzweit – kurz ehe er toll wurde, du weißt doch – (mit seinem Theelöffel auf den Faselhasen zeigend) – es war in dem großen Concert, das die Coeur-Königin gab; ich mußte singen:


›O Papagei, o Papagei!

Wie grün sind deine Federn!‹


Vielleicht kennst du das Lied?«

»Ich habe etwas dergleichen gehört,« sagte Alice.

»Es geht weiter,« fuhr der Hutmacher fort:


»Du grünst nicht nur zur Friedenszeit,

Auch wenn es Teller und Töpfe schneit.

O Papagei, o Papagei –«


Hier schüttelte sich das Murmelthier und fing an im Schlaf zu singen: »O Papagei, o Mamagei, o Papagei, o Mamagei –« in einem fort, so daß sie es zuletzt kneifen mußten, damit es nur aufhöre.

»Denke dir, ich hatte kaum den ersten Vers fertig,« sagte der Hutmacher, »als die Königin ausrief: Abscheulich! der Mensch schlägt geradezu die Zeit todt mit seinem Geplärre. Aufgehängt soll er werden!«

»Wie furchtbar grausam!« rief Alice.

»Und seitdem,« sprach der Hutmacher traurig weiter, »hat sie mir nie etwas zu Gefallen thun wollen, die Zeit! Es ist nun immer 6 Uhr!«

Dies brachte Alice auf einen klugen Gedanken. »Darum sind wohl so viele Tassen hier herumgestellt?« fragte sie.

»Ja, darum,« sagte der Hutmacher mit einem Seufzer, »es ist immer Theestunde, und wir haben keine Zeit, die Tassen dazwischen aufzuwaschen.«

»Dann rückt ihr wohl herum?« sagte Alice.

»So ist es,« sage der Hutmacher, »wenn die Tassen genug gebraucht sind.«

»Aber wen ihr wieder an den Anfang kommt?« unterstand sich Alice zu fragen.

»Wir wollen jetzt von etwas Anderem reden,« unterbrach sie der Faselhase gähnend, »dieser Gegen stand ist mir nachgerade langweilig. Ich schlage vor, die junge Dame erzählt eine Geschichte.«

»O, ich weiß leider keine,« rief Alice, ganz bestürzt über diese Zumuthung.

»Dann soll das Murmelthier erzählen!« riefen beide; »wache auf, Murmelthier!« dabei kniffen sie es von beiden Seiten zugleich.

Das Murmelthier machte langsam die Augen auf. »Ich habe nicht geschlafen,« sagte es mit heiserer, schwacher Stimme, »ich habe jedes Wort gehört, das ihr Jungen gesagt habt.«

»Erzähle uns eine Geschichte!« sagte der Faselhase.

»Ach ja, sei so gut!« bat Alice.

»Und mach schnell,« fügte der Hutmacher hinzu, »sonst schläfst du ein, ehe sie zu Ende ist.«

»Es waren einmal drei kleine Schwestern,« fing das Murmelthier eilig an, »die hießen Else, Lacie und Tillie, und sie lebten tief unten in einem Brunnen –«

»Wovon lebten sie?« fragte Alice, die sich immer für Essen und Trinken sehr interessierte.

»Sie lebten von Syrup,« versetzte das Murmelthier, nachdem es sich eine Minute besonnen hatte.

»Das konnten sie ja aber nicht,« bemerkte Alice schüchtern, »da wären sie ja krank geworden.«

»Das wurden sie auch,« sagte das Murmelthier, »sehr krank.«

Alice versuchte es sich vorzustellen, wie eine so außergewöhnliche Art zu leben wohl sein möchte; aber es kam ihr zu kurios vor, sie mußte wieder fragen: »Aber warum lebten sie unten in dem Brunnen?«

»Willst du nicht ein wenig mehr Thee?« sagte der Faselhase sehr ernsthaft zu Alice.

»Ein wenig mehr? ich habe noch keinen gehabt,« antwortete Alice etwas empfindlich, »also kann ich nicht noch mehr trinken.«

»Du meinst, du kannst nicht weniger trinken,« sagte der Hutmacher: »es ist sehr leicht, mehr als keinen zu trinken.«

»Niemand hat dich um deine Meinung gefragt,« sagte Alice.

»Wer macht denn nun persönliche Bemerkungen?« rief der Hutmacher triumphirend.

Alice wußte nicht recht, was sie darauf antworten sollte; sie nahm sich daher etwas Thee und Butterbrot, und dann wandte sie sich an das Murmelthier und wiederholte ihre Frage: »Warum lebten sie in einem Brunnen?«

Das Murmelthier besann sich einen Augenblick und sagte dann: »Es war ein Syrup-Brunnen.«

»Den giebt es nicht!« fing Alice sehr ärgerlich an; aber der Hutmacher und Faselhase machten beide: »Sch, sch!« und das Murmelthier bemerkte brummend: »Wenn du nicht höflich sein kannst, kannst du die Geschichte selber auserzählen.«

»Nein, bitte erzähle weiter!« sagte Alice ganz bescheiden; »ich will dich nicht wieder unterbrechen. Es wird wohl einen geben.«

»Einen, wirklich!« sagte das Murmelthier entrüstet. Doch ließ es sich zum Weitererzählen bewegen. »Also die drei kleinen Schwestern – sie lernten zeichnen, müßt ihr wissen –«

»Was zeichneten sie?« sagte Alice, ihr Versprechen ganz vergessend.

»Syrup,« sagte das Murmelthier, diesmal ganz ohne zu überlegen.

»Ich brauche eine reine Tasse,« unterbrach der Hutmacher, »wir wollen Alle einen Platz rücken.«

Er rückte, wie er das sagte, und das Murmelthier folgte ihm; der Faselhase rückte an den Platz des Murmelthiers, und Alice nahm, obgleich etwas ungern, den Platz des Faselhasen ein. Der Hutmacher war der Einzige, der Vortheil von diesem Wechsel hatte, und Alice hatte es viel schlimmer als zuvor, da der Faselhase eben den Milchtopf über seinen Teller umgestoßen hatte.

Alice wollte das Murmelthier nicht wieder beleidigen und fing daher sehr vorsichtig an: »Aber ich verstehe nicht. Wie konnten sie den Syrup zeichnen?«

»Als ob nicht aller Syrup gezeichnet wäre, den man vom Kaufmann holt,« sagte der Hutmacher; »hast du nicht immer darauf gesehen: feinste Qualität, allerfeinste Qualität, superfeine Qualität – oh, du kleiner Dummkopf?«

»Wie gesagt, fuhr das Murmelthier fort, lernten sie zeichnen;« hier gähnte es und rieb sich die Augen, denn es fing an, sehr schläfrig zu werden; »und sie zeichneten Allerlei – Alles was mit M. anfängt –«

»Warum mit M?« fragte Alice.

»Warum nicht?« sagte der Faselhase.

Alice war still.

Das Murmelthier hatte mittlerweile die Augen zugemacht, und war halb eingeschlafen; da aber der Hutmacher es zwickte, wachte es mit einem leisen Schrei auf und sprach weiter: – »was mit M anfängt, wie Mausefallen, den Mond, Mangel, und manches Mal – ihr wißt, man sagt: ich habe das manches liebe Mal gethan – hast du je manches liebe Mal gezeichnet gesehen?«

»Wirklich, da du mich selbst fragst,« sagte Alice ganz verwirrt, »ich denke kaum –«

»Dann solltest du auch nicht reden,« sagte der Hutmacher.

Dies war nachgerade zu grob für Alice: sie stand ganz beleidigt auf und ging fort; das Murmelthier schlief augenblicklich wieder ein, und die beiden Andern beachteten ihr Fortgehen nicht, obgleich sie sich ein paar Mal umsah, halb in der Hoffnung, daß sie sie zurückrufen würden. Als sie sie zuletzt sah, versuchten sie das Murmelthier in die Theekanne zu stecken.

»Auf keinen Fall will ich da je wieder hingehen!« sagte Alice, während sie sich einen Weg durch den Wald suchte. »Es ist die dümmste Theegesellschaft, in der ich in meinem ganzen Leben war!«

Gerade wie sie so sprach, bemerkte sie, daß einer der Bäume eine kleine Thür hatte. »Das ist höchst komisch!« dachte sie. »Aber Alles ist heute komisch! Ich will lieber gleich hinein gehen.«

Wie gesagt, so gethan: und sie befand sich wieder in dem langen Corridor, und dicht bei dem kleinen Glastische. »Diesmal will ich es gescheidter anfangen,« sagte sie zu sich selbst, nahm das goldne Schlüsselchen und schloß die Thür auf, die in den Garten führte. Sie machte sich daran, an dem Pilz zu knabbern (sie hatte ein Stückchen in der Tasche behalten), bis sie ungefähr einen Fuß hoch war, dann ging sie den kleinen Gang hinunter; und dann – war sie endlich in dem schönen Garten, unter den prunkenden Blumenbeeten und kühlen Springbrunnen.


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Achtes Kapitel. Das Croquetfeld der Königin.

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Ein großer hochstämmiger Rosenstrauch stand nahe bei'm Eingang; die Rosen, die darauf wuchsen, waren weiß, aber drei Gärtner waren damit beschäftigt, sie roth zu malen. Alice kam dies wunderbar vor, und da sie näher hinzutrat, um ihnen zuzusehen, hörte sie einen von ihnen sagen: »nimm dich in Acht, Fünf! Bespritze mich nicht so mit Farbe!«

»Ich konnte nicht dafür,« sagte Fünf in verdrießlichem Tone; »Sieben hat mich an den Ellbogen gestoßen.«

Worauf Sieben aufsah und sagte: »Recht so Fünf! Schiebe immer die Schuld auf andre Leute!«

»Du sei nur ganz still!« sagte Fünf. »Gestern erst hörte ich die Königin sagen, du verdientest geköpft zu werden!«

»Wofür?« fragte der, welcher zuerst gesprochen hatte.

»Das geht dich nichts an, Zwei!« sagte Sieben.

»Ja, es geht ihn an!« sagte Fünf, »und ich werde es ihm sagen – dafür, daß er dem Koch Tulpenzwiebeln statt Küchenzwiebeln gebracht hat.«

Sieben warf seinen Pinsel hin und hatte eben angefangen: »Ist je eine ungerechtere Anschuldigung –« als sein Auge zufällig auf Alice fiel, die ihnen zuhörte; er hielt plötzlich inne, die andern sahen sich auch um, und sie verbeugten sich Alle tief.

»Wollen Sie so gut sein, mir zu sagen,« sprach Alice etwas furchtsam, »warum Sie diese Rosen malen?«

Fünf und Sieben antworteten nichts, sahen aber Zwei an. Zwei fing mit leiser Stimme an: »Die Wahrheit zu gestehen, Fräulein, dies hätte hier ein rother Rosenstrauch sein sollen, und wir haben aus Versehen einen weißen gepflanzt, und wenn die Königin es gewahr würde, würden wir Alle geköpft werden, müssen Sie wissen. So, sehen Sie Fräulein, versuchen wir, so gut es geht, ehe sie kommt –« In dem Augenblick rief Fünf, der ängstlich tiefer in den Garten hinein gesehen hatte: »Die Königin! die Königin!« und die drei Gärtner warfen sich sogleich flach auf's Gesicht. Es entstand ein Geräusch von vielen Schritten, und Alice blickte neugierig hin, die Königin zu sehen.

Zuerst kamen zehn Soldaten, mit Keulen bewaffnet, sie hatten alle dieselbe Gestalt wie die Gärtner, rechteckig und flach, und an den vier Ecken die Hände und Füße; danach kamen zehn Herren vom Hofe, sie waren über und über mit Diamanten bedeckt und gingen paarweise, wie die Soldaten. Nach diesen kamen die königlichen Kinder, es waren ihrer zehn, und die lieben Kleinen kamen lustig gesprungen Hand in Hand paarweise, sie waren ganz mit Herzen geschmückt. Darauf kamen die Gäste, meist Könige und Königinnen, und unter ihnen erkannte Alice das weiße Kaninchen; es unterhielt sich in etwas eiliger und aufgeregter Weise, lächelte bei Allem, was gesagt wurde und ging vorbei, ohne sie zu bemerken. Darauf folgte der Coeur-Bube, der die königliche Krone auf einem rothen Sammetkissen trug, und zuletzt in diesem großartigen Zuge kamen der Herzenskönig und die Herzenskönigin.

Alice wußte nicht recht, ob sie sich nicht flach auf's Gesicht legen müsse, wie die drei Gärtner; aber sie konnte sich nicht erinnern, je von einer solchen Sitte bei Festzügen gehört zu haben. »Und außerdem, wozu gäbe es überhaupt Aufzüge,« dachte sie, »wenn alle Leute flach auf dem Gesichte liegen müßten, so daß sie sie nicht sehen könnten?« Sie blieb also stehen, wo sie war, und wartete.

Als der Zug bei ihr angekommen war, blieben Alle stehen und sahen sie an, und die Königin fragte strenge: »Wer ist das?« Sie hatte den Coeur-Buben gefragt, der statt aller Antwort nur lächelte und Kratzfüße machte.

»Schafskopf!« sagte die Königin, den Kopf ungeduldig zurückwerfend; und zu Alice gewandt fuhr sie fort: »Wie heißt du, Kind?«

»Mein Name ist Alice, Euer Majestät zu dienen!« sagte Alice sehr höflich; aber sie dachte bei sich: »Ach was, es ist ja nur ein Pack Karten. Ich brauche mich nicht vor ihnen zu fürchten!«

»Und wer sind diese drei?« fuhr die Königin fort, indem sie auf die drei Gärtner zeigte, die um den Rosenstrauch lagen; denn natürlich, da sie auf dem Gesichte lagen und das Muster auf ihrer Rückseite dasselbe war wie für das ganze Pack, so konnte sie nicht wissen, ob es Gärtner oder Soldaten oder Herren vom Hofe oder drei von ihren eigenen Kindern waren.

»Woher soll ich das wissen?« sagte Alice, indem sie sich selbst über ihren Muth wunderte. »Es ist nicht meines Amtes.«

Die Königin wurde purpurroth vor Wuth, und nachdem sie sie einen Augenblick wie ein wildes Thier angestarrt hatte, fing sie an zu brüllen: »Ihren Kopf ab! ihren Kopf –«

»Unsinn!« sagte Alice sehr laut und bestimmt, und die Königin war still.

Der König legte seine Hand auf ihren Arm und sagte milde: »Bedenke, meine Liebe, es ist nur ein Kind!«

Die Königin wandte sich ärgerlich von ihm ab und sagte zu dem Buben: »Dreh' sie um!«

Der Bube that es, sehr sorgfältig, mit einem Fuße.

»Steht auf!« schrie die Königin mit durchdringender Stimme, und die drei Gärtner sprangen sogleich auf und fingen an sich zu verneigen vor dem König, der Königin, den königlichen Kindern, und Jedermann.

»Laßt das sein!« eiferte die Königin. »Ihr macht mich schwindlig.« Und dann, sich nach dem Rosenstrauch umdrehend, fuhr sie fort: »Was habt ihr hier gethan?«

»Euer Majestät zu dienen,« sagte Zwei in sehr demüthigem Tone und sich auf ein Knie niederlassend, »wir haben versucht –«

»Ich sehe!« sagte die Königin, die unterdessen die Rosen untersucht hatte. »Ihre Köpfe ab!« und der Zug bewegte sich fort, während drei von den Soldaten zurückblieben um die unglücklichen Gärtner zu enthaupten, welche zu Alice liefen und sie um Schutz baten.

»Ihr sollt nicht getödtet werden!« sagte Alice, und damit steckte sie sie in einen großen Blumentopf, der in der Nähe stand. Die drei Soldaten gingen ein Weilchen hier- und dorthin, um sie zu suchen, und dann schlossen sie sich ruhig wieder den Andern an.

»Sind ihre Köpfe gefallen?« schrie die Königin sie an.

»Ihre Köpfe sind fort, zu Euer Majestät Befehl!« schrien die Soldaten als Antwort.

»Das ist gut!« schrie die Königin. »Kannst du Croquet spielen?«

Die Soldaten waren still und sahen Alice an, da die Frage augenscheinlich an sie gerichtet war.

»Ja!« schrie Alice.

»Dann komm mit!« brüllte die Königin, und Alice schloß sich dem Zuge an, sehr neugierig, was nun geschehen werde.

»Es ist – es ist ein sehr schöner Tag!« sagte eine schüchterne Stimme neben ihr. Sie ging neben dem weißen Kaninchen, das ihr ängstlich in's Gesicht sah.

»Sehr,« sagte Alice; – »wo ist die Herzogin?«

»Still! still!« sagte das Kaninchen in einem leisen, schnellen Tone. Es sah dabei ängstlich über seine Schulter, stellte sich dann auf die Zehen, hielt den Mund dicht an Alice's Ohr und wisperte: »Sie ist zum Tode verurtheilt.«

»Wofür?« frage diese.

»Sagtest du: wie Schade?« fragte das Kaninchen.

»Nein, das sagte ich nicht,« sagte Alice, »ich finde gar nicht, daß es Schade ist. Ich sagte: wofür?«

»Sie hat der Königin eine Ohrfeige gegeben –« fing das Kaninchen an. Alice lachte hörbar. »Oh still!« flüsterte das Kaninchen in sehr erschrecktem Tone. »Die Königin wird dich hören! Sie kam nämlich etwas spät und die Königin sagte –«

»Macht, daß ihr an eure Plätze kommt!« donnerte die Königin, und Alle fingen an in allen Richtungen durcheinander zu laufen, wobei sie Einer über die Andern stolperten; jedoch nach ein bis zwei Minuten waren sie in Ordnung, und das Spiel fing an.

Alice dachte bei sich, ein so merkwürdiges Croquet-Feld habe sie in ihrem Leben nicht gesehen; es war voller Erhöhungen und Furchen, die Kugeln waren lebendige Igel, und die Schlägel lebendige Flamingos, und die Soldaten mußten sich umbiegen und auf Händen und Füßen stehen, um die Bogen zu bilden.

Die Hauptschwierigkeit, die Alice zuerst fand, war, den Flamingo zu handhaben; sie konnte zwar ziemlich bequem seinen Körper unter ihrem Arme festhalten, so daß die Füße herunterhingen, aber wenn sie eben seinen Hals schön ausgestreckt hatte, und dem Igel nun einen Schlag mit seinem Kopf geben wollte, so richtete er sich auf und sah ihr mit einem so verdutzten Ausdruck in's Gesicht, daß sie sich nicht enthalten konnte laut zu lachen. Wenn sie nun seinen Kopf herunter gebogen hatte und eben wieder anfangen wollte zu spielen, so fand sie zu ihrem großen Verdruß, daß der Igel sich aufgerollt hatte und eben fortkroch; außerdem war gewöhnlich eine Erhöhung oder eine Furche gerade da im Wege, wo sie den Igel hinrollen wollte, und da die umgebogenen Soldaten fortwährend aufstanden und an eine andere Stelle des Grasplatzes gingen, so kam Alice bald zu der Ueberzeugung, daß es wirklich ein sehr schweres Spiel sei.

Die Spieler spielten Alle zugleich, ohne zu warten, bis sie an der Reihe waren; dabei stritten sie sich immerfort und zankten um die Igel, und in sehr kurzer Zeit war die Königin in der heftigsten Wuth, stampfte mit den Füßen und schrie: »Schlagt ihm den Kopf ab!« oder: »Schlagt ihr den Kopf ab!« ungefähr ein Mal jede Minute.

Alice fing an sich sehr unbehaglich zu fühlen, sie hatte zwar noch keinen Streit mit der Königin gehabt, aber sie wußte, daß sie keinen Augenblick sicher davor war, »und was,« dachte sie, »würde dann aus mir werden? die Leute hier scheinen schrecklich gern zu köpfen; es ist das größte Wunder, daß überhaupt noch welche am Leben geblieben sind!« Sie sah sich nach einem Ausgange um und überlegte, ob sie sich wohl ohne gesehen zu werden, fortschleichen könne, als sie eine merkwürdige Erscheinung in der Luft wahrnahm: sie schien ihr zuerst ganz räthselhaft, aber nachdem sie sie ein Paar Minuten beobachtet hatte, erkannte sie, daß es ein Grinsen war, und sagte bei sich: »Es ist die Grinse-Katze; jetzt werde ich Jemand haben, mit dem ich sprechen kann.«

»Wie geht es dir?« sagte die Katze, sobald Mund genug da war, um damit zu sprechen.

Alice wartete, bis die Augen erschienen, und nickte ihr zu. »Es nützt nichts mit ihr zu reden,« dachte sie, »bis ihre Ohren gekommen sind, oder wenigstens eins.« Den nächsten Augenblick erschien der ganze Kopf; da setzte Alice ihren Flamingo nieder und fing ihren Bericht von dem Spiele an, sehr froh, daß sie Jemand zum Zuhören hatte. Die Katze schien zu glauben, daß jetzt genug von ihr sichtbar sei, und es erschien weiter nichts.

»Ich glaube, sie spielen gar nicht gerecht,« fing Alice in etwas klagendem Tone an, »und sie zanken sich Alle so entsetzlich, daß man sein eigenes Wort nicht hören kann – und dann haben sie gar keine Spielregeln, wenigstens wenn sie welche haben, so beobachtet sie Niemand – und du hast keine Idee, wie es Einen verwirrt, daß alle Croquet-Sachen lebendig sind; zum Beispiel da ist der Bogen, durch den ich das nächste Mal spielen muß, und geht am andern Ende des Grasplatzes spazieren – und ich hätte den Igel der Königin noch eben treffen können, nur daß er fortrannte, als er meinen kommen sah!«

»Wie gefällt dir die Königin?« fragte die Katze leise.

»Ganz und gar nicht,« sagte Alice, »sie hat so sehr viel –« da bemerkte sie eben, daß die Königin dicht hinter ihr war und zuhörte, also setzte sie hinzu: »Aussicht zu gewinnen, daß es kaum der Mühe werth ist, das Spiel auszuspielen.«

Die Königin lächelte und ging weiter.

»Mit wem redest du da?« sagte der König, indem er an Alice herantrat und mit großer Neugierde den Katzenkopf ansah.

»Es ist einer meiner Freunde – ein Grinse-Kater,« sagte Alice; »erlauben Eure Majestät, daß ich ihn Ihnen vorstelle.«

»Sein Aussehen gefällt mir gar nicht,« sagte der König; »er mag mir jedoch die Hand küssen, wenn er will.«

»O, lieber nicht!« versetzte der Kater.

»Sei nicht so impertinent,« sagte der König, »und sieh mich nicht so an!« Er stellte sich hinter Alice, als er dies sagte.

»Der Kater sieht den König an, der König sieht den Kater an,« sagte Alice, »das habe ich irgendwo gelesen, ich weiß nur nicht mehr wo.«

»Fort muß er,« sagte der König sehr entschieden, und rief der Königin zu, die gerade vorbeiging: »Meine Liebe! ich wollte, du ließest diesen Kater fortschaffen!«

Die Königin kannte nur eine Art, alle Schwierigkeiten, große und kleine, zu beseitigen. »Schlagt ihm den Kopf ab!« sagte sie, ohne sich einmal umzusehen.

»Ich werde den Henker selbst holen,« sagte der König eifrig und eilte fort.

Alice dachte, sie wollte lieber zurück gehen und sehen, wie es mit dem Spiele stehe, da sie in der Entfernung die Stimme der Königin hörte, die vor Wuth außer sich war. Sie hatte sie schon drei Spieler zum Tode verurtheilen hören, weil sie ihre Reihe verfehlt hatten, und der Stand der Dinge behagte ihr gar nicht, da das Spiel in solcher Verwirrung war, daß sie nie wußte, ob sie an der Reihe sei oder nicht. Sie ging also, sich nach ihrem Igel umzusehen.

Der Igel war im Kampfe mit einem andern Igel, was Alice eine vortreffliche Gelegenheit schien, einen mit dem andern zu treffen; die einzige Schwierigkeit war, daß ihr Flamingo nach dem andern Ende des Gartens gegangen war, wo Alice eben noch sehen konnte, wie er höchst ungeschickt versuchte, auf einen Baum zu fliegen.

Als sie den Flamingo gefangen und zurückgebracht hatte, war der Kampf vorüber und die beiden Igel nirgends zu sehen. »Aber es kommt nicht drauf an,« dachte Alice, »da alle Bogen auf dieser Seite des Grasplatzes fortgegangen sind.« Sie steckte also ihren Flamingo unter den Arm, damit er nicht wieder fortliefe, und ging zurück, um mit ihrem Freunde weiter zu schwatzen.

Als sie zum Cheshire-Kater zurück kam, war sie sehr erstaunt, einen großen Auflauf um ihn versammelt zu sehen: es fand ein großer Wortwechsel statt zwischen dem Henker, dem Könige und der Königin, welche alle drei zugleich sprachen, während die Uebrigen ganz still waren und sehr ängstlich aussahen.

Sobald Alice erschien, wurde sie von allen dreien aufgefordert, den streitigen Punkt zu entscheiden, und sie wiederholten ihr ihre Beweisgründe, obgleich, da alle zugleich sprachen, man kaum verstehen konnte, was jeder Einzelne sagte.

Der Henker behauptete, daß man keinen Kopf abschneiden könne, wo kein Körper sei, von dem man ihn abschneiden könne; daß er so etwas noch nie gethan habe, und jetzt über die Jahre hinaus sei, wo man etwas Neues lerne.

Der König behauptete, daß Alles, was einen Kopf habe, geköpft werden könne, und daß man nicht so viel Unsinn schwatzen solle.

Die Königin behauptete, daß wenn nicht in weniger als keiner Frist etwas geschehe, sie die ganze Gesellschaft würde köpfen lassen. (Diese letztere Bemerkung hatte der Versammlung ein so ernstes und ängstliches Aussehen gegeben.)

Alice wußte nichts Besseres zu sagen als: »Er gehört der Herzogin, es wäre am besten sie zu fragen.«

»Sie ist im Gefängnis,« sagte die Königin zum Henker, »hole sie her.« Und der Henker lief davon wie ein Pfeil.

Da wurde der Kopf des Katers undeutlicher und undeutlicher; und gerade in dem Augenblick, als der Henker mit der Herzogin zurück kam, verschwand er gänzlich; der König und der Henker liefen ganz wild umher, ihn zu suchen, während die übrige Gesellschaft zum Spiele zurückging.


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Neuntes Kapitel. Die Geschichte der falschen Schildkröte.

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»Du kannst dir gar nicht denken, wie froh ich bin, dich wieder zu sehen, du liebes altes Herz!« sagte die Herzogin, indem sie Alice liebevoll umfaßte, und beide zusammen fortspazierten.

Alice war sehr froh, sie bei so guter Laune zu finden, und dachte bei sich, es wäre vielleicht nur der Pfeffer, der sie so böse gemacht habe, als sie sich zuerst in der Küche trafen. »Wenn ich Herzogin bin,« sagte sie für sich (doch nicht in sehr hoffnungsvollem Tone), »will ich gar keinen Pfeffer in meiner Küche dulden. Suppe schmeckt sehr gut ohne – Am Ende ist es immer Pfeffer, der die Leute heftig macht,« sprach sie weiter, sehr glücklich, eine neue Regel erfunden zu haben, »und Essig, der sie sauertöpfisch macht – und Kamillenthee, der sie bitter macht – und Gestenzucker und dergleichen, was Kinder zuckersüß macht. Ich wünschte nur, die großen Leute wüßten das, dann würden sie nicht so sparsam damit sein –«

Sie hatte unterdessen die Herzogin ganz vergessen und schrak förmlich zusammen, als sie deren Stimme dicht an ihrem Ohre hörte. »Du denkst an etwas, meine Liebe, und vergißt darüber zu sprechen. Ich kann dir diesen Augenblick nicht sagen, was die Moral davon ist, aber es wird mir gleich einfallen.«

»Vielleicht hat es keine,« hatte Alice den Muth zu sagen.

»Still, still, Kind!« sagte die Herzogin. »Alles hat seine Moral, wenn man sie nur finden kann.« Dabei drängte sie sich dichter an Alice heran.

Alice mochte es durchaus nicht gern, daß sie ihr so nahe kam: erstens, weil die Herzogin sehr häßlich war, und zweitens, weil sie gerade groß genug war, um ihr Kinn auf Alice's Schultern zu stützen, und es war ein unangenehm spitzes Kinn. Da sie aber nicht gern unhöflich sein wollte, so ertrug sie es, so gut sie konnte.

»Das Spiel ist jetzt besser im Gange,« sagte sie, um die Unterhaltung fortzuführen.

»So ist es,« sagte die Herzogin, »und die Moral davon ist – Mit Liebe und Gesange hält man die Welt im Gange!«

»Wer sagte denn,« flüsterte Alice, »es geschehe dadurch, daß Jeder vor seiner Thüre fege.«

»Ah, sehr gut, das bedeutet ungefähr dasselbe,« sagte die Herzogin, und indem sie ihr spitzes kleines Kinn in Alice's Schulter einbohrte, fügte sie hinzu »und die Moral davon ist – So viel Köpfe, so viel Sinne.«

»Wie gern sie die Moral von Allem findet!« dachte Alice bei sich.

»Du wunderst dich wahrscheinlich, warum ich meinen Arm nicht um deinen Hals lege,« sagte die Herzogin nach einer Pause; »die Wahrheit zu gestehen, ich traue der Laune deines Flamingos nicht ganz. Soll ich es versuchen?«

»Er könnte beißen,« erwiederte Alice weislich, da sie sich keineswegs danach sehnte, das Experiment zu versuchen.

»Sehr wahr,« sagte die Herzogin, »Flamingos und Senf beißen beide. Und die Moral davon ist: Gleich und Gleich gesellt sich gern.«

»Aber der Flamingo ist ja ein Vogel und Senf ist kein Vogel,« wandte Alice ein.

»Ganz recht, wie immer,« sagte die Herzogin, »wie deutlich du Alles ausdrücken kannst.«

»Es ist, glaube ich, ein Mineral,« sagte Alice.

»Versteht sich,« sagte die Herzogin, die Allem, was Alice sagte, beizustimmen schien, »in dem großen Senf-Bergwerk hier in der Gegend sind ganz vorzüglich gute Minen. Und die Moral davon ist, daß wir gute Miene zum bösen Spiel machen müssen.«

»O, ich weiß!« rief Alice aus, die die letzte Bemerkung ganz überhört hatte, »es ist eine Pflanze. Es sieht nicht so aus, aber es ist eine.«

»Ich stimme dir vollkommen bei,« sagte die Herzogin, »und die Moral davon ist: Sei was du zu scheinen wünschest! – oder einfacher ausgedrückt: Bilde dir nie ein verschieden von dem zu sein was Anderen erscheint daß was du warest oder gewesen sein möchtest nicht verschieden von dem war daß was du gewesen warest ihnen erschienen wäre als wäre es verschieden.«

»Ich glaube, ich würde das besser verstehen,« sagte Alice sehr höflich, »wenn ich es aufgeschrieben hätte; ich kann nicht ganz folgen, wenn Sie es sagen.«

»Das ist noch gar nichts dagegen, was ich sagen könnte, wenn ich wollte,« antwortete die Herzogin in selbstzufriedenem Tone.

»Bitte, bemühen Sie sich nicht, es noch länger zu sagen!« sagte Alice.

»O, sprich nicht von Mühe!« sagte die Herzogin, »ich will dir Alles, was ich bis jetzt gesagt habe, schenken.«

»Eine wohlfeile Art Geschenke!« dachte Alice, »ich bin froh, daß man nicht solche Geburtstagsgeschenke macht!«

Aber sie getraute sich nicht, es laut zu sagen.

»Wieder in Gedanken?« fragte die Herzogin und grub ihr spitzes kleines Kinn tiefer ein.

»Ich habe das Recht, in Gedanken zu sein, wenn ich will,« sagte Alice gereizt, denn die Unterhaltung fing an, ihr langweilig zu werden.

»Gerade so viel Recht,« sagte die Herzogin, »wie Ferkel zum Fliegen, und die M –«

Aber, zu Alice's großem Erstaunen stockte hier die Stimme der Herzogin, und zwar mitten in ihrem Lieblingsworte »Moral«, und der Arm, der in dem ihrigen ruhte, fing an zu zittern. Alice sah auf, und da stand die Königin vor ihnen, mit über der Brust gekreuzten Armen, schwarzblickend wie ein Gewitter.

»Ein schöner Tag, Majestät!« fing die Herzogin mit leiser schwacher Stimme an.

»Ich will Sie schön gewarnt haben,« schrie die Königin und stampfte dabei mit dem Fuße: »Fort augenblicklich, entweder mit Ihnen oder mit Ihrem Kopfe! Wählen Sie!«

Die Herzogin wählte und verschwand eilig.

»Wir wollen weiter spielen,« sagte die Königin zu Alice, und diese, viel zu erschrocken, ein Wort zu erwiedern, folgte ihr langsam nach dem Croquet-Felde.

Die übrigen Gäste hatten die Abwesenheit der Königin benutzt, um im Schatten auszuruhen; sobald sie sie jedoch kommen sahen, eilten sie augenblicklich zum Spiele zurück, indem die Königin einfach bemerkte, daß eine Minute Verzug ihnen das Leben kosten würde.

Die ganze Zeit, wo sie spielten, hörte die Königin nicht auf, mit den andern Spielern zu zanken und zu schreien: »Schlagt ihm den Kopf ab!« oder: »Schlagt ihr den Kopf ab!« Diejenigen, welche sie verurtheilt hatte, wurden von den Soldaten in Verwahrsam geführt, die natürlich dann aufhören mußten, die Bogen zu bilden, so daß nach ungefähr einer halben Stunde keine Bogen mehr übrig waren, und alle Spieler, außer dem Könige, der Königin und Alice, in Verwahrsam und zum Tode verurtheilt waren.

Da hörte die Königin, ganz außer Athem, auf und sagte zu Alice: »Hast du die Falsche Schildkröte schon gesehen?«

»Nein,« sagte Alice. »Ich weiß nicht einmal, was eine Falsche Schildkröte ist.«

»Es ist das, woraus falsche Schildkrötensuppe gemacht wird,« sagte die Königin.

»Ich habe weder eine gesehen, noch von einer gehört,« sagte Alice.

»Komm schnell,« sagte die Königin, »sie soll dir ihre Geschichte erzählen.«

Als sie mit einander fortgingen, hörte Alice den König leise zu der ganzen Versammlung sagen: »Ihr seid Alle begnadigt!« »Ach, das ist ein Glück!« sagte sie für sich, denn sie war über die vielen Enthauptungen, welche die Königin angeordnet hatte, ganz außer sich gewesen.

Sie kamen bald zu einem Greifen, der in der Sonne lag und schlief. »Auf, du Faulpelz,« sagte die Königin, »und bringe dies kleine Fräulein zu der falschen Schildkröte, sie möchte gern ihre Geschichte hören. Ich muß zurück und nach einigen Hinrichtungen sehen, die ich angeordnet habe;« damit ging sie fort und ließ Alice mit dem Greifen allein. Der Anblick des Thieres gefiel Alice nicht recht; aber im Ganzen genommen, dachte sie, würde es eben so sicher sein, bei ihm zu bleiben, als dieser grausamen Königin zu folgen, sie wartete also.

Der Greif richtete sich auf und rieb sich die Augen: darauf sah er der Königin nach, bis sie verschwunden war; dann schüttelte er sich. »Ein köstlicher Spaß!« sagte der Greif, halb zu sich selbst, halb zu Alice.

»Was ist ein Spaß?« frage Alice.

»Sie,« sagte der Greif. »Es ist Alles ihre Einbildung, das: Niemand wird niemals nicht hingerichtet. Komm schnell.«

»Jeder sagt hier, komm schnell,« dachte Alice, indem sie ihm langsam nachging, »so viel bin ich in meinem Leben nicht hin und her kommandirt worden, nein, in meinem ganzen Leben nicht!«

Sie brauchten nicht weit zu gehen, als sie schon die falsche Schildkröte in der Entfernung sahen, wie sie einsam und traurig auf einem Felsenriffe saß; und als sie näher kamen, hörte Alice sie seufzen, als ob ihr das Herz brechen wollte. Sie bedauerte sie herzlich. »Was für einen Kummer hat sie?« fragte sie den Greifen, und der Greif antwortete, fast in denselben Worten wie zuvor: »Es ist Alles ihre Einbildung, das; sie hat keinen Kummer nicht. Komm schnell!«

Sie gingen also an die falsche Schildkröte heran, die sie mit thränenschweren Augen anblickte, aber nichts sagte.

»Die kleine Mamsell hier,« sprach der Greif, »sie sagt, sie möchte gern deine Geschichte wissen, sagt sie.«

»Ich will sie ihr erzählen,« sprach die falsche Schildkröte mit tiefer, hohler Stimme; »setzt euch beide her und sprecht kein Wort, bis ich fertig bin.«

Gut, sie setzten sich hin und Keiner sprach mehre Minuten lang. Alice dachte bei sich: »Ich begreife nicht, wie sie je fertig werden kann, wenn sie nicht anfängt.« Aber sie wartete geduldig.

»Einst,« sagte die falsche Schildkröte endlich mit einem tiefen Seufzer, »war ich eine wirkliche Schildkröte.«

Auf diese Worte folgte ein sehr langes Schweigen, nur hin und wieder unterbrochen durch den Ausruf des Greifen »Hjckrrh!« und durch das heftige Schluchzen der falschen Schildkröte. Alice wäre beinah aufgestanden und hätte gesagt: »Danke sehr für die interessante Geschichte!« aber sie konnte nicht umhin zu denken, daß doch noch etwas kommen müsse; daher blieb sie sitzen und sagte nichts.

»Als wir klein waren,« sprach die falsche Schildkröte endlich weiter, und zwar ruhiger, obgleich sie noch hin und wieder schluchzte, »gingen wir zur Schule in der See. Die Lehrerin war eine alte Schildkröte – wir nannten sie Mamsell Schalthier –«

»Warum nanntet ihr sie Mamsell Schalthier?« fragte Alice.

»Sie schalt hier oder sie schalt da alle Tage, darum,« sagte die falsche Schildkröte ärgerlich; »du bist wirklich sehr dumm.«

»Du solltest dich schämen, eine so dumme Frage zu thun,« setzte der Greif hinzu, und dann saßen beide und sahen schweigend die arme Alice an, die in die Erde hätte sinken mögen. Endlich sagte der Greif zu der falschen Schildkröte: »Fahr' zu, alte Kutsche! Laß uns nicht den ganzen Tag warten!« Und sie fuhr in folgenden Worte fort:

»Ja, wir gingen zur Schule, in der See, ob ihr es glaubt oder nicht –«

»Ich habe nicht gesagt, daß ich es nicht glaubte,« unterbrach sie Alice.

»Ja, das hast du,« sagte die falsche Schildkröte.

»Halt den Mund!« fügte der Greif hinzu, ehe Alice antworten konnte. Die falsche Schildkröte fuhr fort.

»Wir gingen in die allerbeste Schule; wir hatten vier und zwanzig Stunden regelmäßig jeden Tag.«

»Das haben wir auf dem Lande auch,« sagte Alice, »darauf brauchst du dir nicht so viel einbilden.«

»Habt ihr auch Privatstunden außerdem?« fragte die falsche Schildkröte etwas kleinlaut.

»Ja,« sagte Alice, »Französisch und Klavier.«

»Und Wäsche?« sagte die falsche Schildkröte.

»Ich dächte gar!« sagte Alice entrüstet.

»Ah! dann gehst du in keine wirklich gute Schule,« sagte die falsche Schildkröte sehr beruhigt. »In unserer Schule stand immer am Ende der Rechnung, ›Französisch, Klavierspielen, Wäsche – extra.‹«

»Das könnt ihr nicht sehr nöthig gehabt haben,« sagte Alice, »wenn ihr auf dem Grund des Meeres wohntet.«

»Ich konnte keine Privatstunden bezahlen,« sagte die falsche Schildkröte mit einem Seufzer. »Ich nahm nur den regelmäßigen Unterricht.«

»Und was war das?« fragte Alice.

»Legen und Treiben, natürlich, zu allererst,« erwiederte die falsche Schildkröte; »Und dann die vier Abtheilungen vom Rechnen: Zusehen, Abziehen, Vervielfraßen und Stehlen.«

»Ich habe nie von Vervielfraßen gehört,« warf Alice ein. »Was ist das?«

Der Greif erhob beide Klauen voller Verwunderung. »Nie von Vervielfraßen gehört« rief er aus. »Du weißt, was Verhungern ist? vermuthe ich.«

»Ja,« sagte Alice unsicher, »es heißt – nichts – essen – und davon – sterben.«

»Nun,« fuhr der Greif fort, »wenn du nicht verstehst, was Vervielfraßen ist, dann bist du ein Pinsel.«

Alice hatte allen Muth verloren, sich weiter danach zu erkundigen, und wandte sich daher an die falsche Schildkröte mit der Frage: »Was hattet ihr sonst noch zu lernen?«

»Nun, erstens Gewichte,« erwiederte die falsche Schildkröte, indem sie die Gegenstände an den Pfoten aufzählte, »Gewichte, alte und neue, mit Seeographie; dann Springen – der Springelehrer war ein alter Stockfisch, der ein Mal wöchentlich zu kommen pflegte, er lehrte uns Pfoten Reiben und Unarten, meerschwimmig Springen, Schillern und Imponiren.«

»Wie war denn das?« fragte Alice.

»Ich kann es dir nicht selbst zeigen,« sagte die falsche Schildkröte, »ich bin zu steif. Und der Greif hat es nicht gelernt.«

»Hatte keine Zeit,« sagte der Greif; »ich hatte aber Stunden bei dem Lehrer der alten Sprachen. Das war ein alter Barsch, ja, das war er.«

»Bei dem bin ich nicht gewesen,« sagte die falsche Schildkröte mit einem Seufzer, »er lehrte Zebräisch und Greifisch, sagten sie immer.«

»Das that er auch, das that er auch, und besonders Laßsein,« sagte der Greif, indem er ebenfalls seufzte, worauf beide Thiere sich das Gesicht mit den Pfoten bedeckten.

»Und wie viel Schüler wart ihr denn in einer Klasse?« sagte Alice, die schnell auf einen andern Gegenstand kommen wollte.

»Zehn den ersten Tag,« sagte die falsche Schildkröte, »neun den nächsten, und so fort.«

»Was für eine merkwürdige Einrichtung!« rief Alice aus.

»Das ist der Grund, warum man Lehrer hält, weil sie die Klasse von Tag zu Tag leeren.«

Dies war ein ganz neuer Gedanke für Alice, welchen sie gründlich überlegte, ehe sie wieder eine Bemerkung machte. »Den elften Tag müssen dann Alle frei gehabt haben?«

»Natürlich!« sagte die falsche Schildkröte.

»Und wie wurde es den zwölften Tag gemacht?« fuhr Alice eifrig fort.

»Das ist genug von Stunden,« unterbrach der Greif sehr bestimmt: »erzähle ihr jetzt etwas von den Spielen.«



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